Unter einer schwarzen Sonne
Am 11. August des Jahres 1999, einem im Alpenraum wechselnd bewölkten Mittwoch, glitt der Mond in seiner gebundenen Rotation, die den Erdbewohnern immer nur eine Seite ihres Trabanten zeigt, zwischen die Bahnen von Sonne und Erde. Sein Schatten huschte dabei mit einer Geschwindigkeit von fünfzigtausend Stundenkilometern über den Atlantik, verlangsamte sich über dem europäischen Kontinent auf weniger als dreitausend Stundenkilometer und verdunkelte auf einer etwa hundert Kilometer breiten und nahezu vierzehntausend Kilometer langen, von Nova Scotia bis an den Golf von Bengalen reichenden Schattenbahn Land und Wasser in einer Kette von totalen Sonnenfinsternissen.
Auch für die steilen, vom Fleckvieh in Stufen getretenen Bergwiesen um jene Almhütte am Rand des oberösterreichischen Höllengebirges, die ich damals in den Sommermonaten als Pächter bewohnte, war eine totale, knapp zweieinhalb Minuten dauernde Finsternis berechnet worden, eine Sensation, wie sie in diesem Landstrich seit einhundertsiebenundfünfzig Jahren nicht mehr zu sehen gewesen war – und von diesem Augusttag an gerechnet, erst in zweiundachtzig Jahren wieder zu sehen sein sollte.
Die Wetterprognose verhieß für das Höllengebirge und auch das dahinter aufragende Tote Gebirge schwache Bewölkung mit längeren blauen Abschnitten. Deswegen hatte ich mit Magnus am Telefon vereinbart, gemeinsam mit ihm, seiner Frau Katharina und seiner Tochter Theresia das Himmelsschauspiel von einer gemauerten Plattform neben meiner Hütte zu beobachten, von der aus ich mit meinen Teleskopen auch die scheinbaren Bewegungen am Nachthimmel verfolgte, Kugelsternhaufen, Doppelsterne und aus Abermilliarden von Sonnen bestehende Spiralnebel in Fernen, in die keine Vorstellungskraft reicht.
Ich hatte Champagner, Schinken, Käse, Weißbrot, dazu die von Magnus stets bevorzugte achtzigprozentige dunkle Schokolade im Rucksack auf die Hütte geschafft – schließlich war bei erhofftem klaren Himmel durchaus etwas zu feiern, denn keiner von uns – die damals noch kindliche Theresia ausgenommen – hatte auch nur eine theoretische Chance, dieses Schauspiel ein zweites Mal zu erleben, wollte er künftigen Verfinsterungen nicht in andere Erdteile nachreisen.
Bei Wein und Salzgebäck
Zwar war auch das bevorstehende Himmelsereignis bloß von der gleichen Unwiederbringlichkeit wie der nächstbeste Augenblick, aber dass darüber der Tag zur Nacht werden und am Mittagshimmel Sterne und Planeten erscheinen sollten, überstieg jeden anderen Zauber dieses Sommertages bei Weitem.
Dabei wären Magnus und seine Familie beinahe in die Falle der Umstände geraten: Bahnhöfe und Züge wurden gestürmt, auf den Straßen bildeten sich Kolonnen und Staus, weil jeder an der Finsternis Interessierte einen besseren und noch besseren Beobachtungsposten erreichen wollte. Die Anfahrt von München an den Traunsee, zum Talort meiner Alm, verlangsamte sich dadurch so dramatisch, dass, als dann über den Bergen auch noch Wolkentürme aufrauchten, ein Jahrhundertversäumnis zu befürchten war.
Aber endlich, nach einem weitere Zeit und Kräfte verzehrenden Aufstieg zu meiner Alm und nur dreißig Minuten vor der Totalität, sahen wir bei einer Flasche Wein und Salzgebäck, wie die Wolkentürme über Graten und Gipfeln zusammensanken und den Blick auf einen strahlenden Augusthimmel freigaben.
Wie immer kannte Magnus die vielen schönen, mit dem Erwartbaren verbundenen Namen längst: die Corona, die Flammenkrone, die in den Augenblicken der totalen Verfinsterung um eine schwarze Sonne zu sehen sein würde, den Diamantring und die Perlenschnur, aus der das letzte und erste Licht der vom Mond verdeckten Sonne als blendende Kostbarkeit durch die Gräben und Mondschluchten auf die Erde fallen würde, den fahlen, ins Violette spielenden Finsternishimmel, die Fliegenden Schatten und Lichtsicheln, die über den glatten Boden meiner Plattform tanzen sollten.
Aber als die erste Flasche leer war und der Mond still und unaufhaltsam wie die Nacht selbst vor die Sonne glitt und zunächst alles war wie berechnet und vorhergesagt, wurde alles ganz anders:
Als wären wir die einzigen Menschen in dieser Minutennacht gewesen und hätten
Am Mittwoch wurde Hans Magnus Enzensberger
zu Grabe getragen. Sein Freund und Kollege Christoph Ransmayr rief ihm nach – und erinnerte sich an jenen Tag im Sommer vor über zwanzig Jahren, als die Vögel verstummten und ein kalter Wind anhob, ein Wind der Finsternis.
niemanden gehabt außer uns, weder zum Kämpfen, noch zum Lieben noch zur Hilfe, senkte sich eine eisengraue Dunkelheit herab und mit ihr eine bis an den Zenit reichende Verlassenheit, und es erhob sich ein wie vom Ende der Zeit kommender Wind, der Finsterniswind. Und es wurde kalt.
Wie vorhergesagt, verstummten die Vögel. Stieglitze, Buchfinken, Kohl- und Blaumeisen, die ich durch die Jahreszeiten in den Obstbäumen der Alm fütterte, saßen stimmlos in den Zweigen. Magnus zeigte auf die aufflammenden, mit Lichtsensoren gekoppelten Promenadenlaternen am Seeufer in der Tiefe. Und ein mit Bewegungsmeldern gegen Raubtiere bewehrter Hühnerstall im Tal lag plötzlich umgeben von einer glitzernden Lichtergirlande im Dunkel. Aber die Sonnenfackeln, die eine schwarze Sonne umflackerten – bis zu einer Million Kilometer hinaus in den Raum schlagende Flammen – konnten ihre stummen Bewunderer auf einer Plattform nicht wärmen und weder Berge noch Almwiesen erhellen.
Sterne. Planeten: Jetzt erschien die Venus im Osten, Merkur im Südwesten, dann der sonnennächste, kaum zwölf Lichtjahre entfernte Doppelstern Procyon im Areal des Kleinen Hundes und die Riesenplaneten Jupiter und Saturn tief im Westen, kurz vor dem Untergang. Magnus kannte alle ihre Namen. Als nach einer Ewigkeit von kaum zweieinhalb Minuten der erste Lichtkristall am westlichen Rand der schwarzen Sonne explodierte und die Wiederkehr des Tages und der Alltäglichkeit ankündigte, stieß der Neuntöter, der seine Brut in einem uralten Holunderstrauch hinter meiner Almhütte hütete, einen seiner unverwechselbaren Warnrufe aus – die erste Stimme am Ende der Finsternis.
Von den Reisen, die ich im Verlauf von Jahrzehnten mit Magnus gemeinsam machen durfte – durch Europa, an den Polarkreis, nach Nord- und Südamerika oder China –, war die Reise in den Kernschatten des Mondes die in die größte Ferne. Unauslöschlich aber die Erinnerung, dass wir auf allen Reisen oft und viel gelacht haben – mit einem so gedankenschnellen Virtuosen des Schüttelreimes gab es trotz seiner Fähigkeiten, in die Abgründe der Geschichte nicht nur zu blicken, sondern sie analytisch oder poetisch zur Sprache zu bringen, genug Grund dazu . . . Doch so still und versunken, gebannt vom Augenblick wie in dieser dunklen Mittagsstunde waren wir nie zuvor gewesen und sollten wir nie wieder werden.
Die Verbeugung des Riesen
Am Ende erwies sich das Lachen als unbesiegbar. Ich erinnere mich an eine gemeinsame Seefahrt durch die Inselwelt des Südchinesischen Meeres und nach Hongkong, auf der Magnus mich in die unterirdischen Fertigungsstraßen der Schneider von Kowloon begleitete: Ich wollte mir dort einen Anzug, den ersten eigenen Anzug meines Lebens, anmessen und nähen lassen – schließlich schienen Ehrungen und Preise damals in einiger Nähe und entsprechende Kleidung angeraten.
Magnus kommentierte meine Auswahl des Stoffes mit keinem Wort: schwarz geflammte, tiefgrüne Seide. Aber als ich nur einen Nähtag später und wieder mit ihm gemeinsam in den Schneiderkellern stand, den Anzug probierte und gleich anbehalten wollte und mit ihm zurück ans Tageslicht stieg, betrachtete er seinen festlich kostümierten Gefährten und sagte nach jenem kurzen Brummen, dem stets ein schneller Gedanke folgte: In diesem dunklen Grün erinnerst du mich an einen bayerischen Grenzbeamten.
Am nächsten Tag – ich hatte den Anzug abgelegt, um ihn nie wieder anzuziehen – saßen wir an der Reling einer Dschunke, die uns zu einem Tempel der Göttin Tin Hau, der Königin des taoistischen Himmels, bringen sollte. Bei einer Schale Tee am Achterdeck kamen wir ins Gespräch mit zwei Mädchen, Stegreifdichterinnen aus Chung Wan, die sich als ehrfürchtige Leserinnen von Magnus erwiesen. Eine von ihnen las gerade seinen „Untergang der Titanic“, eines der größten poetischen Werke des zwanzigsten Jahrhunderts, und bat Magnus um eine Signatur in ihrer Mandarin-Übersetzung.
Und der Dichter brachte auch diese beiden Leserinnen zum Lachen, als er ihnen von einer probeweisen Rückübersetzung des „Untergangs der Titanic“– aus dem Koreanischen, Japanischen oder Mandarin ins Deutsche – erzählte, die aus dem „Untergang der Titanic“eine „Verbeugung des Riesen“werden ließ. Kichernd verbeugten sich die beiden vor Magnus, dem Großen, dem Riesen, der sich auch selber vor so vielem, selbst Kleinem und Kleinstem, respektvoll, immer interessiert und manchmal begeistert verbeugt hatte.
Und ich, ein tiefgrün uniformierter Grenzpolizist, stemme nun den Grenzbalken hoch, um dem Riesen meines Lebens den Weg freizumachen in eine Weite, die nach den Gleichungen und Träumen der Astrophysik und Quantenphysik den kühnsten und rätselhaftesten aller Namen verdient : Unsterblichkeit.