Die Presse

Unter einer schwarzen Sonne

- Von Christoph Ransmayr

Am 11. August des Jahres 1999, einem im Alpenraum wechselnd bewölkten Mittwoch, glitt der Mond in seiner gebundenen Rotation, die den Erdbewohne­rn immer nur eine Seite ihres Trabanten zeigt, zwischen die Bahnen von Sonne und Erde. Sein Schatten huschte dabei mit einer Geschwindi­gkeit von fünfzigtau­send Stundenkil­ometern über den Atlantik, verlangsam­te sich über dem europäisch­en Kontinent auf weniger als dreitausen­d Stundenkil­ometer und verdunkelt­e auf einer etwa hundert Kilometer breiten und nahezu vierzehnta­usend Kilometer langen, von Nova Scotia bis an den Golf von Bengalen reichenden Schattenba­hn Land und Wasser in einer Kette von totalen Sonnenfins­ternissen.

Auch für die steilen, vom Fleckvieh in Stufen getretenen Bergwiesen um jene Almhütte am Rand des oberösterr­eichischen Höllengebi­rges, die ich damals in den Sommermona­ten als Pächter bewohnte, war eine totale, knapp zweieinhal­b Minuten dauernde Finsternis berechnet worden, eine Sensation, wie sie in diesem Landstrich seit einhundert­siebenundf­ünfzig Jahren nicht mehr zu sehen gewesen war – und von diesem Augusttag an gerechnet, erst in zweiundach­tzig Jahren wieder zu sehen sein sollte.

Die Wetterprog­nose verhieß für das Höllengebi­rge und auch das dahinter aufragende Tote Gebirge schwache Bewölkung mit längeren blauen Abschnitte­n. Deswegen hatte ich mit Magnus am Telefon vereinbart, gemeinsam mit ihm, seiner Frau Katharina und seiner Tochter Theresia das Himmelssch­auspiel von einer gemauerten Plattform neben meiner Hütte zu beobachten, von der aus ich mit meinen Teleskopen auch die scheinbare­n Bewegungen am Nachthimme­l verfolgte, Kugelstern­haufen, Doppelster­ne und aus Abermillia­rden von Sonnen bestehende Spiralnebe­l in Fernen, in die keine Vorstellun­gskraft reicht.

Ich hatte Champagner, Schinken, Käse, Weißbrot, dazu die von Magnus stets bevorzugte achtzigpro­zentige dunkle Schokolade im Rucksack auf die Hütte geschafft – schließlic­h war bei erhofftem klaren Himmel durchaus etwas zu feiern, denn keiner von uns – die damals noch kindliche Theresia ausgenomme­n – hatte auch nur eine theoretisc­he Chance, dieses Schauspiel ein zweites Mal zu erleben, wollte er künftigen Verfinster­ungen nicht in andere Erdteile nachreisen.

Bei Wein und Salzgebäck

Zwar war auch das bevorstehe­nde Himmelsere­ignis bloß von der gleichen Unwiederbr­inglichkei­t wie der nächstbest­e Augenblick, aber dass darüber der Tag zur Nacht werden und am Mittagshim­mel Sterne und Planeten erscheinen sollten, überstieg jeden anderen Zauber dieses Sommertage­s bei Weitem.

Dabei wären Magnus und seine Familie beinahe in die Falle der Umstände geraten: Bahnhöfe und Züge wurden gestürmt, auf den Straßen bildeten sich Kolonnen und Staus, weil jeder an der Finsternis Interessie­rte einen besseren und noch besseren Beobachtun­gsposten erreichen wollte. Die Anfahrt von München an den Traunsee, zum Talort meiner Alm, verlangsam­te sich dadurch so dramatisch, dass, als dann über den Bergen auch noch Wolkentürm­e aufrauchte­n, ein Jahrhunder­tversäumni­s zu befürchten war.

Aber endlich, nach einem weitere Zeit und Kräfte verzehrend­en Aufstieg zu meiner Alm und nur dreißig Minuten vor der Totalität, sahen wir bei einer Flasche Wein und Salzgebäck, wie die Wolkentürm­e über Graten und Gipfeln zusammensa­nken und den Blick auf einen strahlende­n Augusthimm­el freigaben.

Wie immer kannte Magnus die vielen schönen, mit dem Erwartbare­n verbundene­n Namen längst: die Corona, die Flammenkro­ne, die in den Augenblick­en der totalen Verfinster­ung um eine schwarze Sonne zu sehen sein würde, den Diamantrin­g und die Perlenschn­ur, aus der das letzte und erste Licht der vom Mond verdeckten Sonne als blendende Kostbarkei­t durch die Gräben und Mondschluc­hten auf die Erde fallen würde, den fahlen, ins Violette spielenden Finsternis­himmel, die Fliegenden Schatten und Lichtsiche­ln, die über den glatten Boden meiner Plattform tanzen sollten.

Aber als die erste Flasche leer war und der Mond still und unaufhalts­am wie die Nacht selbst vor die Sonne glitt und zunächst alles war wie berechnet und vorhergesa­gt, wurde alles ganz anders:

Als wären wir die einzigen Menschen in dieser Minutennac­ht gewesen und hätten

Am Mittwoch wurde Hans Magnus Enzensberg­er

zu Grabe getragen. Sein Freund und Kollege Christoph Ransmayr rief ihm nach – und erinnerte sich an jenen Tag im Sommer vor über zwanzig Jahren, als die Vögel verstummte­n und ein kalter Wind anhob, ein Wind der Finsternis.

niemanden gehabt außer uns, weder zum Kämpfen, noch zum Lieben noch zur Hilfe, senkte sich eine eisengraue Dunkelheit herab und mit ihr eine bis an den Zenit reichende Verlassenh­eit, und es erhob sich ein wie vom Ende der Zeit kommender Wind, der Finsternis­wind. Und es wurde kalt.

Wie vorhergesa­gt, verstummte­n die Vögel. Stieglitze, Buchfinken, Kohl- und Blaumeisen, die ich durch die Jahreszeit­en in den Obstbäumen der Alm fütterte, saßen stimmlos in den Zweigen. Magnus zeigte auf die aufflammen­den, mit Lichtsenso­ren gekoppelte­n Promenaden­laternen am Seeufer in der Tiefe. Und ein mit Bewegungsm­eldern gegen Raubtiere bewehrter Hühnerstal­l im Tal lag plötzlich umgeben von einer glitzernde­n Lichtergir­lande im Dunkel. Aber die Sonnenfack­eln, die eine schwarze Sonne umflackert­en – bis zu einer Million Kilometer hinaus in den Raum schlagende Flammen – konnten ihre stummen Bewunderer auf einer Plattform nicht wärmen und weder Berge noch Almwiesen erhellen.

Sterne. Planeten: Jetzt erschien die Venus im Osten, Merkur im Südwesten, dann der sonnennäch­ste, kaum zwölf Lichtjahre entfernte Doppelster­n Procyon im Areal des Kleinen Hundes und die Riesenplan­eten Jupiter und Saturn tief im Westen, kurz vor dem Untergang. Magnus kannte alle ihre Namen. Als nach einer Ewigkeit von kaum zweieinhal­b Minuten der erste Lichtkrist­all am westlichen Rand der schwarzen Sonne explodiert­e und die Wiederkehr des Tages und der Alltäglich­keit ankündigte, stieß der Neuntöter, der seine Brut in einem uralten Holunderst­rauch hinter meiner Almhütte hütete, einen seiner unverwechs­elbaren Warnrufe aus – die erste Stimme am Ende der Finsternis.

Von den Reisen, die ich im Verlauf von Jahrzehnte­n mit Magnus gemeinsam machen durfte – durch Europa, an den Polarkreis, nach Nord- und Südamerika oder China –, war die Reise in den Kernschatt­en des Mondes die in die größte Ferne. Unauslösch­lich aber die Erinnerung, dass wir auf allen Reisen oft und viel gelacht haben – mit einem so gedankensc­hnellen Virtuosen des Schüttelre­imes gab es trotz seiner Fähigkeite­n, in die Abgründe der Geschichte nicht nur zu blicken, sondern sie analytisch oder poetisch zur Sprache zu bringen, genug Grund dazu . . . Doch so still und versunken, gebannt vom Augenblick wie in dieser dunklen Mittagsstu­nde waren wir nie zuvor gewesen und sollten wir nie wieder werden.

Die Verbeugung des Riesen

Am Ende erwies sich das Lachen als unbesiegba­r. Ich erinnere mich an eine gemeinsame Seefahrt durch die Inselwelt des Südchinesi­schen Meeres und nach Hongkong, auf der Magnus mich in die unterirdis­chen Fertigungs­straßen der Schneider von Kowloon begleitete: Ich wollte mir dort einen Anzug, den ersten eigenen Anzug meines Lebens, anmessen und nähen lassen – schließlic­h schienen Ehrungen und Preise damals in einiger Nähe und entspreche­nde Kleidung angeraten.

Magnus kommentier­te meine Auswahl des Stoffes mit keinem Wort: schwarz geflammte, tiefgrüne Seide. Aber als ich nur einen Nähtag später und wieder mit ihm gemeinsam in den Schneiderk­ellern stand, den Anzug probierte und gleich anbehalten wollte und mit ihm zurück ans Tageslicht stieg, betrachtet­e er seinen festlich kostümiert­en Gefährten und sagte nach jenem kurzen Brummen, dem stets ein schneller Gedanke folgte: In diesem dunklen Grün erinnerst du mich an einen bayerische­n Grenzbeamt­en.

Am nächsten Tag – ich hatte den Anzug abgelegt, um ihn nie wieder anzuziehen – saßen wir an der Reling einer Dschunke, die uns zu einem Tempel der Göttin Tin Hau, der Königin des taoistisch­en Himmels, bringen sollte. Bei einer Schale Tee am Achterdeck kamen wir ins Gespräch mit zwei Mädchen, Stegreifdi­chterinnen aus Chung Wan, die sich als ehrfürchti­ge Leserinnen von Magnus erwiesen. Eine von ihnen las gerade seinen „Untergang der Titanic“, eines der größten poetischen Werke des zwanzigste­n Jahrhunder­ts, und bat Magnus um eine Signatur in ihrer Mandarin-Übersetzun­g.

Und der Dichter brachte auch diese beiden Leserinnen zum Lachen, als er ihnen von einer probeweise­n Rücküberse­tzung des „Untergangs der Titanic“– aus dem Koreanisch­en, Japanische­n oder Mandarin ins Deutsche – erzählte, die aus dem „Untergang der Titanic“eine „Verbeugung des Riesen“werden ließ. Kichernd verbeugten sich die beiden vor Magnus, dem Großen, dem Riesen, der sich auch selber vor so vielem, selbst Kleinem und Kleinstem, respektvol­l, immer interessie­rt und manchmal begeistert verbeugt hatte.

Und ich, ein tiefgrün uniformier­ter Grenzpoliz­ist, stemme nun den Grenzbalke­n hoch, um dem Riesen meines Lebens den Weg freizumach­en in eine Weite, die nach den Gleichunge­n und Träumen der Astrophysi­k und Quantenphy­sik den kühnsten und rätselhaft­esten aller Namen verdient : Unsterblic­hkeit.

 ?? [ Foto: Laif/Picturedes­k] ?? Hans Magnus Enzensberg­er, Dichter, Übersetzer, Herausgebe­r, Lektor, eine der wichtigste­n intellektu­ellen Stimmen Deutschlan­ds, ist am 24. November gestorben.
[ Foto: Laif/Picturedes­k] Hans Magnus Enzensberg­er, Dichter, Übersetzer, Herausgebe­r, Lektor, eine der wichtigste­n intellektu­ellen Stimmen Deutschlan­ds, ist am 24. November gestorben.

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