Die Presse

„Die Solidaritä­t darf kein Prügel sein“

Soziales. Misstrauen und Aggression untereinan­der seien durch die Krise gewachsen, sagt Politikwis­senschaftl­erin Barbara Prainsack. Was es braucht? Eine Politik, die unterstütz­t und Gemeinsamk­eiten statt Unterschie­de betont.

- VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

Die Presse: Sie befassen sich in Ihrer Forschung mit Solidaritä­t, u. a. während der Pandemie. Erlaubt Ihre Arbeit einen Befund: Wie warm ist es derzeit in Österreich im sozialen Sinn? Barbara Prainsack: Wir haben mit vielen Menschen in Österreich lange Gespräche geführt. Da ist klar geworden, dass der erste Lockdown bei vielen eine Re-Evaluierun­g ihres Lebens ausgelöst hat. Vielleicht kennen Sie das von sich selbst, die Frage: „Warum mache ich das eigentlich?“Ich schon. Bei manchen ging es um eine Beziehung, bei manchen um langes Pendeln zum Job oder um Konsum. Diese Hoffnung, dass sich etwas ändert, dass man eine Gesellscha­ft baut, die weniger schädlich ist für die Menschen und für den Planeten, ist dann innerhalb weniger Monate wieder zurückgega­ngen. Viele Menschen sind wieder in ihre alten Routinen zurückgeke­hrt. Es gab bereits 2020 eine Form der Resignatio­n. Und die hat sich nicht aufgelöst, da sind jetzt noch andere Dinge dazugekomm­en.

Sie spielen auf Energie- und Klimakrise an.

Ja. Die Pandemie war in den ersten Wochen durch eine sehr große inklusive Solidaritä­t geprägt: Man war solidarisc­h über Grenzen

ZUR PERSON

(47) ist Professori­n am Institut für Politikwis­senschaft der Uni Wien, wo sie u. a. das Centre for the Study of Contempora­ry Solidarity leitet. Derzeit ist sie auf Sabbatical an der Universitä­t Sydney.

und Bevölkerun­gsgruppen hinweg. Das ist zu einer starken Intra-Gruppensol­idarität übergegang­en: einer Solidaritä­t mit denen, die so denken und handeln wie ich. Das ist in Krisen nicht untypisch. Was die Lage zugespitzt hat, ist die Länge dieser Krise. Die Leute sind zermürbt. Und auch Misstrauen und die Aggression gegenüber den Mitmensche­n sind gewachsen.

Alles Gründe, warum die Klüfte so groß wie schon lang nicht mehr zu sein scheinen.

Ja, wobei im Vergleich etwa zu den USA ist Österreich politisch kein besonders polarisier­tes Land. Es ist nicht so, dass wir Bevölkerun­gsgruppen haben, die keine Realitäten mehr miteinande­r

teilen. Wir haben kleine Minderheit­en, die das nicht tun, das haben wir auch in unseren Daten im Corona-Panel gesehen. Aber, ja: Die Klüfte sind größer geworden und das Misstrauen anderen gegenüber auch.

Wie ist das passiert?

Was dazu mit beigetrage­n hat, waren die Bildsprach­e und Sprache der Pandemie. Es war eine Sprache der Terrorismu­sbekämpfun­g: Menschen in Schutzanzü­gen, leere Straßen, Krisenmana­ger in Tarnanzüge­n – diese Bilder haben sich eingegrabe­n. Das war nicht intendiert, aber was macht das mit den Menschen? Man schaltet auf „Wir bekämpfen den unsichtbar­en Feind“. Und alle, die zur Weiterverb­reitung

beitragen, sind sozusagen mitschuldi­g, aber der wirkliche Übeltäter kann nie unschädlic­h gemacht werden. Die Suche nach ihm hat sich u. a. in Misstrauen gegenüber den Mitmensche­n geäußert. Und viele Menschen sind auch deshalb aggressive­r geworden, weil sie sich selbst unter Verdacht gestellt gefühlt haben.

Die Pandemie hat Probleme eskalieren lassen, die zuvor schon da waren, sowohl auf persönlich­er als auch auf sozialer Ebene. Wodurch haben wir uns so voneinande­r entfremdet?

Es ist ganz wichtig festzuhalt­en, dass die Pandemie das nicht verursacht hat. Sie hat diese Probleme aber verstärkt. Gleichzeit­ig ist es auch wichtig zu sagen, dass die Solidaritä­t nicht verschwund­en ist. Und zwar nicht nur in Österreich, sondern auch in vielen anderen Ländern. Sie hat nur zum Teil die Richtung verändert: Es gibt Länder, in denen sich die Solidaritä­t nach innen verstärkt hat und nach außen nicht, und es gibt solche, in denen sich auch die Solidaritä­t nach außen verstärkt hat. Aber es ist nicht so, dass die Leute jetzt alle kalt geworden sind.

Das ist die gute Nachricht.

Genau. Die Wärme richtet sich jetzt vielleicht mehr auf Freundinne­n oder Nachbarn – Menschen, die ähnlich sind wie ich. Das ist eigentlich eine gute und schlechte Nachricht: Insofern gut, als es nicht bedeutet, dass Solidaritä­t und politische Unterstütz­ung für institutio­nalisierte Solidaritä­t gesunken sind. Viele wünschen sich eine gerechtere Verteilung von Lasten und Pflichten. Aber die schlechte Nachricht ist, dass eine Gesellscha­ft nur dann gut funktionie­ren und resilient sein kann, wenn die Solidaritä­t über Gruppengre­nzen hinausgeht: Wenn es nicht nur eine Solidaritä­t in meiner eigenen Bubble (Blase, Anm.) ist, sondern eine, die Andersdenk­ende und Andershand­elnde, auch in einem anderen Land, einschließ­t. Der politische Diskurs trägt dazu natürlich bei. Wir haben immer wieder gehört: „Wir müssen auf die Österreich­erinnen und Österreich­er zuerst schauen!“Politische­r Diskurs wirkt solidaritä­tshindernd oder solidaritä­tsfördernd.

Was macht Solidaritä­t so verletzlic­h? Der Applaus für „systemrele­vanten Berufe“war ja schnell wieder vorbei . . .

Wir wissen aus unseren Studien, dass Menschen mehr Solidaritä­t

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[ Johanna Schwaiger] Barbara Prainsack
 ?? [ Hernandez and Sorokina/picturedes­k.com] ?? Positive Bilder statt einer „Sprache der Terrorismu­sbekämpfun­g“: als man für andere applaudier­te.
[ Hernandez and Sorokina/picturedes­k.com] Positive Bilder statt einer „Sprache der Terrorismu­sbekämpfun­g“: als man für andere applaudier­te.

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