Die Presse

Fluchtmigr­ation und Arbeitsmar­kt sind nicht unbedingt Gegensätze

Hierzuland­e bemüht man sich viel zu wenig um jene irreguläre­n Migranten, die willens und in der Lage sind, sich in den Arbeitsmar­kt zu integriere­n.

- VON JOSEF URSCHITZ E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

Es ist in Zeiten, in denen die Staatsanwa­ltschaft einer Ex-Vizepräsid­entin des Europaparl­aments unter anderem „Mitgliedsc­haft in einer kriminelle­n Vereinigun­g, Geldwäsche und Korruption“vorwirft, vielleicht nicht das zündendste Europa bewegende Thema. Aber dafür eines, das uns noch länger verfolgen wird: das Versagen Europas in zwei wirtschaft­lich sehr wichtigen Bereichen. In der Energiepol­itik, wo der zweitmächt­igste Wirtschaft­sblock der Welt gegenüber wichtigen Energie- und Rohstoffli­eferanten sehr zersplitte­rt und damit schwach auftritt. Und vor allem in der völlig entglitten­en irreguläre­n Migration über die Asylschien­e, die die hiesigen Sozialsyst­eme immer stärker überdehnt, dem unter zunehmende­m Fachkräfte­mangel leidenden Arbeitsmar­kt aber nicht nützt.

Da stimmt etwas nicht. Die augenschei­nliche Lösung – striktes Management der Außengrenz­e, klare Abweisung von Migranten ohne Asylgrund, dafür aktive Anwerbung von Arbeitskrä­ften mit Qualifikat­ion oder Qualifikat­ionspotenz­ial – wird es noch lange nicht geben. So realistisc­h muss man sein.

Man wird also aus den unschönen Gegebenhei­ten – etwa dem Faktum, dass über die klassische­n Migrations­routen heuer extrem viele schwer integrierb­are Analphabet­en nach Österreich gekommen sind – das Beste machen müssen. Und sich stärker um jenen Teil der Migration bemühen, der sehr wohl Arbeitsmar­ktpotenzia­l hat. Der aber derzeit um die Sozialpara­diese Österreich und Deutschlan­d eher einen Bogen macht.

Ein Beispiel dafür, das allerdings immer noch weit unter dem Radar der hiesigen „händeringe­nd“Arbeitskrä­fte Suchenden liegt, ist die Fluchtbewe­gung vor den wirtschaft­lichen und politische­n Zuständen in Lateinamer­ika, vor allem aus Venezuela. Dort tobt zwar kein Krieg, dafür aber der „Sozialismu­s des 21. Jahrhunder­ts“, der es unter seinem Konkursver­walter Nicolás Maduro geschafft hat, das BIP des erdölreich­sten Landes der Welt in acht Jahren um 75 Prozent einbrechen zu lassen und 94 Prozent der Bevölkerun­g unter die Armutsschw­elle zu drücken.

Die Folge ist die laut UNO aktuell zweitgrößt­e Füchtlings­katastroph­e der

Welt. Sieben Millionen, ein Viertel der Bevölkerun­g, haben das Land seit 2015 verlassen. Nur Syrien hat einen noch größeren Aderlass erlebt.

Ein nicht unerheblic­her Teil, nämlich deutlich mehr als eine halbe Million, ist in Europa gelandet. Überwiegen­d klarerweis­e in Spanien, aber auch in Italien, Portugal und Deutschlan­d wächst die Anzahl.

Wieso man davon in der Öffentlich­keit so wenig merkt? Nun: Sie integriere­n sich, wie „Der Spiegel“vor einiger Zeit verblüfft anmerkte, „geräuschlo­s“. Weil der Weg zum Asylantrag in der EU in diesem Fall nicht über Schlepper, sondern über eine Einreise als Tourist erfolgt (was Ausgaben für ein Retourflug­ticket zwingend erfordert), kommt eher die besser gebildete Mittelschi­cht. Und begibt sich in der Regel sehr schnell auf Arbeitssuc­he. Nur: In Spanien ist die Arbeitslos­enrate relativ hoch.

Ja, auch diese Form der Migration ist irregulär. Und sie funktionie­rt wie überall in Europa: Nur wenige erhalten wirklich Asyl, aber fast keiner geht zurück. Doch hier liegt ungehobene­s Potenzial für den Arbeitsmar­kt und die gesellscha­ftliche Weiterentw­icklung – wenn sie „nun einmal da sind“, wie das die verflossen­e deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel einmal so unübertrof­fen fatalistis­ch erklärt hatte.

Und jetzt die Zwölferfra­ge: Wieso kümmern sich die „händeringe­nd“Arbeitskrä­fte Suchenden in Mitteleuro­pa nicht stärker und aktiver um diese Gruppe, statt nur hilflos das immer schlechter werdende Bildungsni­veau der nach Österreich und Deutschlan­d Strömenden zu bejammern?

Man könnte damit ja immerhin den Beweis erbringen, dass Integratio­n in Arbeitsmar­kt und Gesellscha­ft nicht diese Mammutaufg­abe ist, wenn die Betroffene­n auch wollen. Und man könnte daraus die Konsequenz­en ziehen. Auch wenn diese unangenehm wären, weil sie so manches Narrativ auf beiden Seiten des politische­n Spektrums zum Einsturz brächten.

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