Das riskante Machtspiel der Atommächte am Dach der Welt
Bei neuen Zusammenstößen am Himalaya wurden mehrere Soldaten verletzt. Die Angst vor einer Eskalation ist groß.
Delhi/Wien. Asiens rivalisierende Atomgiganten sind sich am Dach der Welt wieder gefährlich nahe gekommen: Bei neuen Zusammenstößen zwischen indischen und chinesischen Truppen im nordostindischen Himalaya-Distrikt Tawang, auf mehr als 4500 Meter Höhe, wurden Soldaten beider Länder offenbar leicht verletzt.
Der Zwischenfall ereignete sich vergangene Woche, wurde aber erst am Dienstag bekannt, als Indiens Verteidigungsminister, Rajnath Singh, das Parlament informierte: Chinesische Soldaten seien auf indisches Territorium vorgedrungen und hätten „versucht, unilateral den Status quo“des Grenzverlaufs zu ändern. Daraufhin sei es zu Gefechten gekommen. Nach chinesischen Angaben hingegen überquerten die Inder „illegal“die Kontrolllinie und versperrten chinesischen Patrouillen den Weg. Nach dem Scharmützel zogen sich beide Seiten aber schnell zurück. Auch trafen sich am Sonntag chinesische und indische Kommandeure, um wieder Ruhe herzustellen. Ebenso bemühten sich Diplomaten um Deeskalation.
Doch die Lage bleibt brisant: Die rund 3500 Kilometer lange Grenzlinie zwischen den bevölkerungsreichsten Staaten der Welt gehört zu einer der gefährlichsten Gegenden überhaupt. Peking und Delhi haben dort ihren Territorialkonflikt nie gelöst, 1962 führten sie deshalb einen Krieg mit mehr als 2000 Toten gegeneinander. Vereinbart wurde danach zwar ein Waffenstillstand, doch einen
Konsens über den genauen Verlauf der „Line of Control“gab es nie. Die Spannungen entluden sich über Jahrzehnte in einem eiskalten Krieg, zumal sich China mit Indiens Erzfeind Pakistan und Indien mit Chinas Hauptrivalen, der Sowjetunion, verbündete. Anfang der 1990er einigten sich beide Staaten darauf, den Status quo an der Grenze so lange nicht anzutasten, bis eine Lösung gefunden werde. Sie entwickelten gemeinsame Richtlinien, um Eskalationen zu vermeiden.
Knüppel, Eisenstangen und Felsen
Doch seit sich China auch in Indiens Hinterhof breitmacht, kriselt es an der Grenze wieder. So baut Peking seinen Einfluss über Darlehen, Infrastrukturprojekte, Handelsverträge oder Militärkooperationen vom Indischen Ozean bis in den Himalaya aus, bindet indische Verbündete wie Sri Lanka, Burma oder Nepal an sich, baut Allianzen mit Indiens Feind Pakistan aus. Dies trug dazu bei, dass im Frühling 2020 Spannungen am Himalaya explodierten. Erstmals kam es wieder zu Gefechten: Grenzsoldaten schlugen mit Knüppeln und Eisenstangen aufeinander ein, bewarfen sich mit Felsbrocken. Daraufhin bauten beide Staaten ihre Truppenpräsenz an der Grenze massiv aus.
Ein Jahr später folgten neue Scharmützel. danach herrschte angespannte Ruhe. Wie blank die Nerven liegen und wie schnell die Lage außer Kontrolle geraten kann, beweist die jüngste Eskalation. (basta)