Ein System, das kollektiv versagte
Missbrauch. Jahrelang konnte ein Wiener Lehrer unbehelligt Kinder missbrauchen, weil andere wegschauten. Was Bildungsdirektion, Schulpsychologie, Schulleitung und Justiz vorgeworfen wird.
Wien. 40 Fälle sind bekannt – und ausschließen, dass es noch mehr werden, kann niemand: Ein Wiener Sportlehrer und sein mutmaßlicher Mittäter haben an einer Wiener Sport-Mittelschule und in einem Basketballverein Kinder und Jugendliche jahrelang sexuell belästigt und missbraucht. Ermöglicht hat das ein kollektives Behördenversagen, das Bildungsdirektion, Schulpsychologie, Schulleitung und Justiz umfasst.
1 Die Schulleitung tat – trotz Beobachtungen – jahrelang nichts.
Erst 2019 kommt nach einer Anzeige Bewegung in die Causa, die laut Bericht der Kommission der Bildungsdirektion bereits 2004 begonnen haben dürfte: Der Sportlehrer, der sich im Mai 2019 infolge der Anzeige gegen ihn das Leben nahm, hat an seiner Schule jahrelang Schüler sexuell missbraucht. Dass das so lange nicht auffällt, liegt in erster Linie an der Schulleitung und dem Lehrkörper, die laut Bericht zwar vereinzelt Wahrnehmungen haben, diesen aber lange Zeit nicht nachgehen – und auch nicht der Bildungsdirektion berichten. So soll der Ex-Schulleiter von einem Fotobuch gewusst haben, das der Lehrer 2012 Eltern und Schülern als Abschlussgeschenk mitgab – darin finden sich Fotos von Schülern unter der Dusche. Ex-Schüler erheben auch gegen den aktuellen Schulleiter Vorwürfe: Er soll die Klasse, die der Sportlehrer bis zu seinem Suizid als Klassenvorstand betreute, danach als „Arschlochklasse“beschimpft haben.
Auch die nach dem Suizid entsandte Schulpsychologie dürfte die Lage falsch eingeschätzt haben: Weshalb der Lehrer Suizid beging, wurde Schülern und Eltern erst im Oktober 2019 kommuniziert. Die Klasse galt damals als „schwer zu unterrichten“. Als in der Pandemie Distance-Learning verordnet wird, habe man sie großteils sich selbst
überlassen, wie Lehrer und Schüler berichten.
Die Wiener Bildungsdirektion gab Informationen intern nicht weiter.
Auch die Dienstrechtsjuristin wusste laut Kommissionsbericht bis Herbst 2019 nichts von der Causa, obwohl die Schulleitung im Mai 2019 über die Ermittlungen des Landeskriminalamts informiert wurde und diese an die Bildungsdirektion weitergab. Der entsprechende Mitarbeiter leitete die Info intern aber nicht weiter. Auch das Landeskriminalamt tat dies nicht. Bildungsdirektor Heinrich Himmer (SPÖ) räumte dazu bereits Versäumnisse ein. Im November wurde mit dem LKA eine verpflichtende Meldekette festgelegt. Ob Himmer seinen Posten räumen muss, ließ Wiens Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat, Christoph Wiederkehr (Neos), in der „Presse“zuletzt offen. Auf Nachfrage verweist Himmer auf die „Kompetenzstelle Kinderschutz“, die er auf Anraten des Berichts gründen wolle. Zudem habe
er die Schulen aufgerufen, bis zum Ende des Schuljahres Kinderschutzkonzepte zu erstellen.
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3 Die Justiz verschlampte eine Anzeige aus dem Jahr 2013.
Dass der Fall erst 2019 auffliegt, liegt an einem bisher „unerklärlichen“Umstand: Denn gegen den Lehrer wird schon 2013 Anzeige erstattet. Auf einem Sommercamp am Wolfgangsee, wo er als Betreuer tätig ist, kommt es zu einem weiteren Vorfall. Die Anzeige des Opfers auf einer Polizeidienststelle in Niederösterreich aber versandet. Die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt ermittelt nun wegen Amtsmissbrauchs gegen unbekannt.
Justizministerin Alma Zadić forderte in der Vorwoche dazu einen Informationsbericht der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt, was mit der ersten Anzeige aus dem Jahr 2013 geschah. Nach dem Suizid des Lehrers Ende Mai 2019 wurde das Ermittlungsverfahren gegen ihn von der Staatsanwaltschaft Wien eingestellt.
4 Wegen einer Gesetzeslücke sind ähnliche Fälle weiterhin möglich.
Ein mutmaßlicher Mittäter des Sportlehrers zeigt wiederum gesetzliche Lücken auf: Der Basketballtrainer war selbst als Lehrer tätig. Er verlor seinen Job 2016 infolge einer Anzeige eines Schülers wegen eines sexuellen Übergriffs. Das Verfahren der Staatsanwaltschaft wurde allerdings eingestellt. Der Ex-Lehrer aber fiel weiter im Basketballverein auf, in dem auch manche seiner Ex-Schüler trainierten. Als Trainer kam er ausgerechnet auch an jene Volksschule, die baulich mit der Mittelschule verbunden ist, an der der Sportlehrer tätig war. Beide waren am Wolfgangsee als Betreuer im Einsatz.
Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) will nun das Gesetz ändern und es zumindest verurteilten Sexualstraftätern verbieten, in der Jugendarbeit tätig zu sein. Das ist ihnen bisher erlaubt, wenn sie zum Zeitpunkt der ersten Straftat noch nicht in diesem Bereich tätig waren oder der Strafmaß weniger als ein Jahr beträgt.