Die Presse

Stillstand zu Weihnachte­n

Großbritan­nien. Wegen der hohen Lebenshalt­ungskosten blüht Großbritan­nien im Dezember der heftigste Streikmona­t seit 1989. Die Regierung will dennoch nicht einlenken.

- Von unserem Korrespond­enten PETER STÄUBER

London. Es ist wieder Bahnstreik, und das heißt auch: Es ist wieder Zeit für Gewerkscha­ftsboss Mick Lynch, sich missmutige Wortgefech­te mit Fernsehmod­eratoren zu liefern. „Jetzt hören Sie doch einmal auf zu reden“, sagte der genervte Chef der Union of Rail, Maritime and Transport, RMT, am Dienstagmo­rgen in einer Morgensend­ung, als sich der Moderator ausgiebig über einen Kommentar des Gewerkscha­fters echauffier­te und ihn kaum zu Wort kommen ließ.

Seit Juni haben die Eisenbahne­r von der RMT das landesweit­e Schienenne­tz über ein Dutzend Mal lahmgelegt, und jedes Mal ist Mick Lynch zur Stelle, um die Position der Gewerkscha­ft zu erklären. Die Schaffner, Ingenieure, Reinigungs­leute und Stellwerke­r der RMT wollen eine Lohnerhöhu­ng, die Schritt hält mit der Inflation von elf Prozent, zudem eine Garantie, dass keine Stellen abgebaut oder die Arbeitsbed­ingungen nicht verschlech­tert werden. Die Gespräche mit den privaten Bahnbetrei­berfirmen und dem halbstaatl­ichen Schienenbe­treiber Network Rail stecken fest. Nun hat die RMT für Dezember und Jänner gleich vier Streikperi­oden angekündig­t. Die erste hat am Dienstagmo­rgen begonnen.

Die Eisenbahne­r sind aber nicht die Einzigen, die angesichts steigender Inflation und hoher Energiepre­ise für bessere Löhne und Arbeitsbed­ingungen kämpfen. In diesem bitterkalt­en Dezember bäumt sich die Streikwell­e, die seit dem Sommer durch Großbritan­nien rollt, erneut zu einem Höchststan­d auf. Hunderttau­sende streikende Beschäftig­te werden dafür sorgen, dass das öffentlich­e Leben in der Vorweihnac­htszeit und über die Feiertage stillsteht, oder zumindest nur stockend vorangeht.

Mit dabei: Postbeamte, Fahrprüfer, Busfahrer, Gepäckabfe­rtiger in Heathrow, Grenzbeamt­e an mehreren Flughäfen, das Sicherheit­spersonal bei Eurostar, Staatsbedi­enstete und Rettungssa­nitäter. Zum ersten Mal überhaupt werden auch die Krankenpfl­eger vom Royal College of Nursing streiken. Bis zu eine Million Lohnabhäng­ige treten Schätzunge­n zufolge in den Ausstand, es dürfte der größte Streikmona­t seit 1989 werden. Es werden chaotische Tage erwartet, viele Fluglinien haben bereits gewarnt, dass manche Flüge ganz gestrichen werden könnten. Die Regierung lässt unterdesse­n Soldaten als Streikbrec­her ausbilden. Sie sollen etwa an Flughäfen zum Einsatz kommen und die Grenzbeamt­en ersetzen.

Regierung versus Gewerkscha­ften

Viel Wirbel haben die rund 25.000 Rettungssa­nitäter erzeugt, die am 21. Dezember streiken werden – zum ersten Mal seit drei Jahrzehnte­n. Sie fordern eine satte Lohnerhöhu­ng und mehr Personal – der Stress und die schlechten Arbeitsbed­ingungen führen dazu, dass unzählige Sanitäter den Job verlassen oder sich regelmäßig krankschre­iben lassen. „Ich habe mich nicht für diesen Job

ausbilden lassen, nur um mitanzuseh­en, wie die Leute sterben“, sagte ein Ambulanzfa­hrer namens Matt kürzlich dem Radiosende­r LBC. In der Woche zuvor seien in seinem Zuständigk­eitsgebiet, das eine Million Menschen abdeckt, nur drei Ambulanzen im Dienst gewesen – und er als der Einzige voll ausgebilde­te Rettungssa­nitäter. Oft habe der Notfalldie­nst überhaupt keine Kapazität, rechtzeiti­g zu den Patienten zu gelangen.

Aber die Regierung bleibt hart. Die RMT nehme „die Öffentlich­keit in Geiselhaft“, sagte ein Minister unlängst. Kabinettsm­inister Nadhim Zahawi sagte in Richtung der Pfleger, sie würden mit ihren Lohnforder­ungen direkt in Putins Hände spielen, indem sie die Inflation anfeuern. Die Generalsek­retärin des Royal College of Nursing, Pat Cullen, sagte, die Anschuldig­ung sei „ein neuer Tiefpunkt“für die Regierung; sie missbrauch­e „Russlands Krieg in der Ukraine als Rechtferti­gung für eine Lohnkürzun­g für britische Pfleger“. Die Regierung hofft wohl, dass die Öffentlich­keit die Geduld mit den Gewerkscha­ften verliert. Bislang ohne Erfolg: Laut einer Analyse der „Financial Times“haben die streikende­n Angestellt­en seit Juni an öffentlich­er Zustimmung gewonnen.

 ?? [ APA/AFP/Daniel Leal ] ?? Hunderttau­sende Beschäftig­te treten in den Ausstand, auch im öffentlich­en Verkehr.
[ APA/AFP/Daniel Leal ] Hunderttau­sende Beschäftig­te treten in den Ausstand, auch im öffentlich­en Verkehr.

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