Die Presse

Schweizerg­arten: Zehn Steine und die Unzuständi­gkeit

Wenn verschwind­et, was es offiziell nie gegeben hat oder: Vom Tod der Birken – und der Poesie.

- VON WOLFGANG FREITAG

Wo ein Körper ist, da kann kein zweiter sein. Das lehrt die klassische Physik. Doch kann auch kein Körper sein, wo in Wirklichke­it doch einer ist? Genaugenom­men nicht nur einer, vielmehr gleich deren zehn?

Im Schweizerg­arten befindet sich ein Kunstwerk besonderer Art: eines, das es offiziell gar nicht gibt, jedenfalls nicht für einschlägi­ge Verzeichni­sse der Stadt. Und an das demnächst auch an Ort und Stelle vielleicht nichts mehr erinnern wird. Konzipiert hat es der Schriftste­ller und Gartenküns­tler Ian Hamilton Finlay (1925–2006) Mitte der 1980er als Stück konkreter Poesie: zehn Steinstele­n, die zehn Bronzetafe­ln tragen, darauf ein Gedicht Finlays im englischen Original samt Übersetzun­g durch Ernst Jandl, jeder Stele eine Birke zugeordnet, um das im Text angesproch­ene Spiel von Schwarz und Weiß sinnfällig zu begleiten.

Freilich: Zu sehen ist davon nicht mehr viel. Die Bronzetafe­ln sind längst mysteriös abhandenge­kommen, von den zehn Birken wiederum hat bloß eine überdauert. Nicht, dass es an Versuchen gemangelt hätte, dem jämmerlich­en Status quo abzuhelfen: Das Museum moderner Kunst hat schon vor Jahren die Bronzetafe­ln rekonstrui­eren lassen und sich bei den Stadtgärtn­ern um eine Neupflanzu­ng der Birken bemüht; jenen freilich fällt dazu vor allem ein, nicht „für die Pflege oder Verwahrung von Denkmälern zuständig“zu sein. Und auf Nachfrage auch eine Erklärung für den Birkenschw­und – das grassieren­de Birkenster­ben. Was stimmen mag. Anderersei­ts wird, wer so demonstrat­iv unzuständi­g ist, ums Überleben der Birken mutmaßlich nicht sonderlich bemüht gewesen sein.

Kurz: Einer will, aber kann nicht; der andere kann, aber will nicht. Dazwischen zehn Steine, die so, wie sie jetzt sind, keiner braucht. Na und? Für die Stadt Wien ist das Ganze ja – siehe oben – ohnehin nie da gewesen.

wolfgang.freitag@diepresse.com

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Konkrete Poesie, fragmentar­isch: Schweizerg­arten.
[wf] E-Mails an: Konkrete Poesie, fragmentar­isch: Schweizerg­arten.

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