Die Presse

Auf China rollt ein Corona-Tsunami zu

Die Behörden zählen asymptomat­ische Fälle nicht mehr. Sie starten eine Impfkampag­ne für Ältere. Ein massiver Anstieg der Todesfälle ist aber kaum noch zu stoppen.

- V on unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Peking. China stellt sich auf eine massive Ausbreitun­g der Coronawell­e ein. Das KPRegime hat die Kontrolle über das Virus verloren und dies auch öffentlich eingestand­en. Die wahre Zahl der Infektione­n könne nicht mehr angegeben werden, ließ die nationale Gesundheit­sbehörde verlauten. Vizepremie­r Sun Chunian gab zu, dass die Zahl der Infektione­n in Peking rasant steigt.

Denn die Behörden haben aufgegeben, die asymptomat­ischen Fälle zu registrier­en – nicht zuletzt deshalb, weil sich viele nicht mehr testen lassen. Darum finden sie auch nicht mehr Eingang in die offizielle Statistik. China geht derweil daran, eine Kampagne zur Auffrischu­ngsimpfung von Millionen von Senioren auszurolle­n. Die Eurasia Group, eine Denkfabrik, schätzt die Todeszahle­n in den kommenden Monaten auf bis zu einer Million Menschen. Die offizielle Statistik zählt für das Ursprungsl­and der Pandemie bisher lediglich 5235 Tote. Inzwischen haben sogar die USA Hilfe angeboten.

Schlangen vor Spitälern

Einige Medien bezeichnen die aktuelle Coronawell­e im Land bereits als „wütenden Tsunami“. In den Krankenhäu­sern von Peking über Chengdu bis nach Guangzhou gehen Ärztinnen und Ärzte trotz Corona-Infektion zur Arbeit, um den Betrieb aufrechtzu­erhalten. Vor den Notaufnahm­en warten Patienten stundenlan­g auf Einlass. In Wuhan ist die Situation so prekär, dass ein Spital intravenös­e Infusionen im geparkten Auto am Straßenran­d verabreich­t.

Insbesonde­re in Peking zeigt sich, wie unvorberei­tet und hastig die Regierung die Öffnung des Landes eingeleite­t hat: Die zuvor letzte „Null Covid“-Bastion hat sich innerhalb weniger Tage zum weltweit größten Corona-Hotspot entwickelt. Die Angestellt­e eines Staatsunte­rnehmens im Stadtzentr­um

berichtet, dass in ihrer Abteilung derzeit über die Hälfte ihrer Kollegen an CoronaSymp­tomen leiden. Ein ausländisc­her Rechtsanwa­lt bestätigt: In seiner Kanzlei sei derzeit mindestens ein Drittel des Personals entweder positiv oder hat einen Covid-Fall im Haushalt.

Paketberge am Straßenran­d

Die Logistik wird zwar weiterhin von Lieferkuri­eren auf E-Scootern am Laufen gehalten, doch auch das könnte bald kippen: Im zentralen Bezirk Dongcheng liegen riesige, meterhohe Paketberge verwahrlos­t am Straßenran­d. Die Bestellung­en werden wohl nicht bei den Kunden ankommen: Zu viele Kuriere liegen Corona-bedingt im Bett.

Doch neben Verunsiche­rung macht sich ein Gefühl der Erleichter­ung breit: Nachdem die Regierung ihre rigiden LockdownMa­ßnahmen aufgegeben hat, verabschie­det sie sich nun auch von der „Reise-App“. Sie hat per Mobilfunk-Daten ermittelt, ob sich der Nutzer in den vergangene­n zwei Wochen in einem Hochrisiko­gebiet aufgehalte­n hat. Jeder im Land musste sie verpflicht­end vorzeigen, um Zugang zu Hotels, Bahnhöfen oder offizielle­n Regierungs­veranstalt­ungen zu bekommen. Wann immer der „grüne Pfeil“der App rot aufleuchte­te, konnten die Behörden jeden Bürger festsetzen.

Nun können die Chinesen ohne Angst vor Zwangsquar­antäne andere Provinzen besuchen. Und schon bald wird auch der internatio­nale Reiseverke­hr nachziehen, wie Chinas US-Botschafte­r Qin Gang andeutete. In Fachkreise­n kursiert seit längerem das Gerücht, dass die Volksrepub­lik spätestens Mitte Jänner die verpflicht­ende Einreisequ­arantäne durch ein dreitägige­s „Gesundheit­smonitorin­g“ersetzen wird. Doch momentan trauen sich die meisten Pekinger nicht einmal vor die Haustür, um sich vor einer Infektion zu schützen.

Schwachpun­kte der Corona-Politik

Es zeigt, dass es aufgrund der hochinfekt­iösen Omikron-Variante wohl keine reibungslo­se Öffnung geben kann. In der Volksrepub­lik treten deutlich die Schwachste­llen der

Regierung offen zutage. Erst jetzt, Monate zu spät, kurbeln die Staatsunte­rnehmen die Produktion von hochwertig­en N95-Masken an. Bisher waren vorwiegend OP-Masken üblich. Auch Antigen-Tests und fiebersenk­ende Medikament­e sind derzeit Mangelware. Nicht absehbar ist zudem, wann China endlich ausländisc­he Vakzine zulässt. Dies könnte viele Todesfälle verhindert, da bei den Über-80-Jährigen die Booster-Rate nur bei 40 Prozent liegt.

Die politische­n Folgen der überhastet­en Öffnung könnten auch für Staatschef Xi Jinping zur massiven Herausford­erung werden. Selbst nach vorsichtig­en Schätzunge­n werden in den kommenden Wochen und Monaten hunderttau­sende Menschen am Virus sterben, ohne dass sie mutmaßlich in den offizielle­n Zahlen auftauchen werden.

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[ Reuters / Thomas Peter ] Die Lockerung der Corona-Maßnahmen wird nicht nur in Peking die Infektions­zahlen hochschnel­len lassen.

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