Foltern in der „Kinderzelle“
Ukraine. Der Vorwurf wiegt schwer: Die Russen sollen Minderjährige gequält haben. Wasser bekamen sie „nur jeden zweiten Tag“.
Wien/Kiew. Zehn Folterkammern haben die Ukrainer nach eigenen Angaben in der Region Cherson entdeckt, vier davon in der gleichnamigen Provinzhauptstadt. Und in einer davon fiel ihnen ein abgesonderter Raum auf. Er war auch feucht und karg, aber unterschied sich von den anderen dadurch, dass drei „dünne“Schlafmatten auf dem Boden lagen – und dass dort auch Minderjährige gefoltert worden sein sollen. Die russischen Besatzer haben das Zimmer selbst als „Kinderzelle“bezeichnet, behauptet der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinez,
„Cherson ist der Tiefpunkt“
Er machte die Folter-Vorwürfe publik: „Ich dachte, mit Butscha und Irpin ist der Tiefpunkt erreicht“, sagte Lubinez in Anspielung auf die Kiewer Vororte, in denen nach dem russischen Abzug Massengräber entdeckt worden waren. Aber er habe sich getäuscht: „Cherson ist der Tiefpunkt.“Zum ersten Mal in diesem Krieg sei das „Foltern von Kindern“aufgedeckt worden.
Lubinez erklärte zwar, dass die Verbrechen dokumentiert seien.
Beweise legte er aber keine vor. Unabhängig bestätigen lassen sich die Anschuldigungen nicht.
Die jungen Opfer wurden nach Angaben des Menschenrechtsbeauftragten vielfach gequält. Sie hätten nur jeden zweiten Tag Wasser bekommen „und praktisch kein Essen“. Sie wurden laut Lubinez aber auch psychologisch malträtiert. Die Besatzer „haben ihnen erzählt, dass sie ihre Eltern verlassen hätten und nicht zurückkehren würden“.
Lubinez zufolge brauchte es nicht viel, um in der „Kinderzelle“zu landen. Ein 14-Jähriger habe Fotos von kaputter russischer Ausrüstung geknipst und sei deshalb gefoltert worden. Er hatte aus Sicht der Invasoren gemeinsame Sache mit der ukrainischen Armee gemacht. Wie lange die „Kinder“(womit alle Minderjährigen gemeint sind), in der Zelle festgehalten wurden, sagte Lubinez nicht.
Cherson war die einzige Provinzhauptstadt, die Russland nach dem 24. Februar erobert hatte. Doch eine Gegenoffensive der Ukrainer zwang die Besatzer im November zum schmachvollen Rückzug auf die andere Seite des Dnipro-Flusses. In der Stadt Cherson weht seither die blau-gelbe
Fahne. Und allmählich zeigt sich dort auch das Grauen, das acht Monate Besatzung hinterlassen hat.
Millionen Kinder in Gefahr
Die „Kinderzelle“wirft ein Schlaglicht auf das Schicksal der Kleinen in diesem großen Krieg. Die Zahlen sind monströs: 1,5 Millionen Kinder in der Ukraine, schätzt Unicef, sind von Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Problemen bedroht.
Noch viel mehr Kinder, nämlich fast alle der sieben Millionen, spüren die Folgen von Putins Krieg gegen die Energieinfrastruktur. Es geht nicht nur um die Folgen der Kälte. Ohne Strom fällt der OnlineUnterricht aus, für viele der letzte Zugang zu Bildung und zu Mitschülern. „Millionen Kinder stehen vor einem trostlosen Winter in Kälte und Dunkelheit, ohne zu wissen, wie oder wann sich die Situation verbessert“, warnt UnicefDirektorin Catherine Russell.
Der Menschenrechtsbeauftragte Lubinez machte erneut auch Deportationen zum Thema. Mindestens 8600 Kinder seien unter Zwang nach Russland verschleppt worden, behauptete er.