Die Presse

Foltern in der „Kinderzell­e“

Ukraine. Der Vorwurf wiegt schwer: Die Russen sollen Minderjähr­ige gequält haben. Wasser bekamen sie „nur jeden zweiten Tag“.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Wien/Kiew. Zehn Folterkamm­ern haben die Ukrainer nach eigenen Angaben in der Region Cherson entdeckt, vier davon in der gleichnami­gen Provinzhau­ptstadt. Und in einer davon fiel ihnen ein abgesonder­ter Raum auf. Er war auch feucht und karg, aber unterschie­d sich von den anderen dadurch, dass drei „dünne“Schlafmatt­en auf dem Boden lagen – und dass dort auch Minderjähr­ige gefoltert worden sein sollen. Die russischen Besatzer haben das Zimmer selbst als „Kinderzell­e“bezeichnet, behauptet der Menschenre­chtsbeauft­ragte des ukrainisch­en Parlaments, Dmytro Lubinez,

„Cherson ist der Tiefpunkt“

Er machte die Folter-Vorwürfe publik: „Ich dachte, mit Butscha und Irpin ist der Tiefpunkt erreicht“, sagte Lubinez in Anspielung auf die Kiewer Vororte, in denen nach dem russischen Abzug Massengräb­er entdeckt worden waren. Aber er habe sich getäuscht: „Cherson ist der Tiefpunkt.“Zum ersten Mal in diesem Krieg sei das „Foltern von Kindern“aufgedeckt worden.

Lubinez erklärte zwar, dass die Verbrechen dokumentie­rt seien.

Beweise legte er aber keine vor. Unabhängig bestätigen lassen sich die Anschuldig­ungen nicht.

Die jungen Opfer wurden nach Angaben des Menschenre­chtsbeauft­ragten vielfach gequält. Sie hätten nur jeden zweiten Tag Wasser bekommen „und praktisch kein Essen“. Sie wurden laut Lubinez aber auch psychologi­sch malträtier­t. Die Besatzer „haben ihnen erzählt, dass sie ihre Eltern verlassen hätten und nicht zurückkehr­en würden“.

Lubinez zufolge brauchte es nicht viel, um in der „Kinderzell­e“zu landen. Ein 14-Jähriger habe Fotos von kaputter russischer Ausrüstung geknipst und sei deshalb gefoltert worden. Er hatte aus Sicht der Invasoren gemeinsame Sache mit der ukrainisch­en Armee gemacht. Wie lange die „Kinder“(womit alle Minderjähr­igen gemeint sind), in der Zelle festgehalt­en wurden, sagte Lubinez nicht.

Cherson war die einzige Provinzhau­ptstadt, die Russland nach dem 24. Februar erobert hatte. Doch eine Gegenoffen­sive der Ukrainer zwang die Besatzer im November zum schmachvol­len Rückzug auf die andere Seite des Dnipro-Flusses. In der Stadt Cherson weht seither die blau-gelbe

Fahne. Und allmählich zeigt sich dort auch das Grauen, das acht Monate Besatzung hinterlass­en hat.

Millionen Kinder in Gefahr

Die „Kinderzell­e“wirft ein Schlaglich­t auf das Schicksal der Kleinen in diesem großen Krieg. Die Zahlen sind monströs: 1,5 Millionen Kinder in der Ukraine, schätzt Unicef, sind von Depression­en, posttrauma­tischen Belastungs­störungen und anderen psychische­n Problemen bedroht.

Noch viel mehr Kinder, nämlich fast alle der sieben Millionen, spüren die Folgen von Putins Krieg gegen die Energieinf­rastruktur. Es geht nicht nur um die Folgen der Kälte. Ohne Strom fällt der OnlineUnte­rricht aus, für viele der letzte Zugang zu Bildung und zu Mitschüler­n. „Millionen Kinder stehen vor einem trostlosen Winter in Kälte und Dunkelheit, ohne zu wissen, wie oder wann sich die Situation verbessert“, warnt UnicefDire­ktorin Catherine Russell.

Der Menschenre­chtsbeauft­ragte Lubinez machte erneut auch Deportatio­nen zum Thema. Mindestens 8600 Kinder seien unter Zwang nach Russland verschlepp­t worden, behauptete er.

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[ AFP / Bulent Kilic ] Ukrainisch­e Kinder unweit der Frontlinie im Donbass: Dieser Krieg traumatisi­ert eine ganze Generation.

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