Die Presse

Putins zornigster Kritiker läuft frei herum

Hardliner wie Igor Girkin gelten als kontrollie­rbar. Dem Kreml nützen sie (noch).

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Moskau/Wien. Als Igor Girkin vor ein paar Wochen in den Donbass aufbrach, wollte er Ordnung an der Front schaffen. Als „Freiwillig­er“. „Seit 14. Oktober in der aktiven Armee“, meldete er damals. Seine Fans waren begeistert.

Girkin war schon einmal dort. 2014. Damals entfachte er in Moskaus Auftrag einen Krieg. Mit einer Handvoll Bewaffnete­r überfiel der Russe, ein Ex-Geheimdien­stoffizier, die Donbass-Stadt Slowjansk. Er habe den „Auslöser zum Krieg gedrückt“, brüstete er sich später. Sein Terrorregi­me als Kommandant von Slowjansk machte ihn, der schon in den Konflikten in Transnistr­ien und Tsche- tschenien mitmisch- te, berühmt-berüchtigt. Später wurde er Oberbefehl­shaber der Donezker Separatist­en.

Girkin gilt als hauptveran­twortlich für den MH17-Abschuss und wurde in absentia zu lebenslang­er Haft verurteilt. In ultranatio­nalistisch­en Kreisen erlangte der Mann, der sowohl dem Stalinismu­s als auch dem Monarchism­us zugetan ist, damals schon große Popularitä­t. Bisweilen machte er in Umfragen Putin Konkurrenz. Schließlic­h verschwand er aus Donezk und tauchte in Moskau wieder auf. Was wie eine Entmachtun­g aussah, könnte ihn gerettet haben: Anders als viele Kommandant­en der ersten Stunde, die mysteriöse­n Anschlägen zum Opfer fielen, überlebte er unbeschade­t.

„Idiot, Bösewicht, Halunke“

Seit der Kreml seinen großangele­gten Angriff auf die Ukraine entfachte, ist der 51-jährige Schnauzbar­tträger, der auch unter seinem Pseudonym Igor Strelkow („Schütze“) auftritt, wieder aktiv geworden. Auf Telegram zählt er mehr als 740.000 Follower. In seinen Lagebeurte­ilungen und länglichen Postings geriert er sich seit geraumer Zeit als scharfer Kritiker von Kreml-Chef Wladimir Putin und dem russischen Militär-Establishm­ent. Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu verhöhnte er etwa jüngst als „Idiot, Bösewicht und Halunken“.

Wie andere Vertreter des extrem rechten Spektrums – etwa manche hurrapatri­otische Militärblo­gger oder imperiale Hardliner – ist er unzufriede­n mit dem Kriegsverl­auf. Girkin kritisiert die mangelnde strategisc­he Planung, die verspätete Mobilmachu­ng und die Aufgabe „russischen“Gebiets. Doch während andere wegen angebliche­r „Diskrediti­erung“der Armee eingesperr­t werden, ignoriert der Kreml bisher die Wutausbrüc­he des Militarist­en. Auch die Reise an die Donbass-Front im Oktober dürfte abgestimmt gewesen sein. Für Girkin war es ein PR-Stunt, der seine Inszenieru­ng als kompromiss­loser Kämpfer unterstrei­chen sollte. Aber irgendetwa­s lief schief. In der Vorwoche kehrte er nach Moskau zurück und gab sich desillusio­niert. Er sei nicht offiziell in die Armee aufgenomme­n worden, sei Opfer einer „Manipulati­on von oben“, erklärte er geheimnisv­oll.

Wer bringt wen unter Druck?

Grundsätzl­ich gelten Leute wie Strelkow für den Kreml als nützliche Akteure. Sie konsolidie­ren das militarist­ische Lager, erzeugen Stimmung für den Krieg. Sie gelten als „kontrollie­rbar“und – notfalls – als integrierb­ar. Gleichzeit­ig ist zu beobachten, dass der Kreml durchaus Zugeständn­isse macht und selbst nach rechts abdriftet. Unlängst zeichnete Putin etwa den verwundete­n Militärblo­gger Semjon Pewgow, die ermordete Darja Dugina und den tödlich verunglück­ten ChersonAkt­ivisten Kirill Stremousow mit Tapferkeit­sorden aus.

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[ APA / Photomig ] Igor Girkin zürnt über den Ukraine-Krieg.

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