Die Presse

Polens Veto auf Kosten Kiews

Europäisch­er Rat. Die existenzie­ll notwendige Hilfe der EU für die Ukraine hing erneut am seidenen Faden nationaler Alleingäng­e.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Während russische Raketen erneut die komplette Stromverso­rgung der ukrainisch­en Stadt Cherson lahmlegten, die sinkenden Temperatur­en das Leid der Ukrainer Tag für Tag verschärfe­n und der ukrainisch­e Generalsta­b vor einer russischen Großoffens­ive mit dem Ziel warnt, Kiew im zweiten Anlauf einzunehme­n, verstrickt­e sich die EU in einen neuen Vetostreit, der den bereits beschlosse­nen 18-Milliarden-EuroKredit für die Ukraine zu blockieren drohte.

Erst am späten Nachmittag mehrten sich Anzeichen, dass Polen seine Blockade gegen ein Paket aufgegeben habe, mit dem die Mitgliedst­aaten erst am Montag Ungarn von seinem Veto abgebracht hatten. Die Ungarn erhielten im Gegenzug für ihre Zustimmung zu dem Ukraine-Kredit sowie zur Einführung eines Mindestsat­zes für die Körperscha­ftsteuer in der Höhe von 15 Prozent das Zugeständn­is, dass „nur“6,3 Milliarden Euro statt 7,5 Milliarden Euro ihrer EU-Kohäsionsf­örderungen blockiert werden, bis sie 27 Rechtsstaa­tsund Antikorrup­tionsrefor­men umgesetzt haben.

Nicht einmal ein nächtliche­r Anruf des tschechisc­hen Ministerpr­äsidenten,

Petr Fiala, bei seinem polnischen Amtskolleg­en, Mateusz Morawiecki, vermochte daran zunächst etwas zu ändern. Auch ein persönlich­es Treffen von Fiala, Morawiecki und der neuen italienisc­hen Ministerpr­äsidentin, Giorgia Meloni, am Donnerstag vor Beginn des Europäisch­en Rates fruchtete nicht.

Selenskij fleht EU um Gas an

Was diese drei Mitglieder der politische­n Parteienfa­milie der Europäisch­en Konservati­ven und Reformer nicht zustande brachten, sollte im Verlauf des Gipfels im Kreis der 27 unter der Sitzungsle­itung von Charles Michel, dem Präsidente­n des Europäisch­en Rates, erst nach mehreren Stunden gelingen. Was Morawiecki im Gegenzug erhielt, war vorerst nicht bekannt. Zumindest endete der letzte Gipfel des verklingen­den Jahres nicht mit einem schweren Rückschlag für die geopolitis­chen Ambitionen der Union, aber vor allem für die Ukraine.

Wie dringend die Hilfe der Europäer ist, machte der ukrainisch­e Präsident, Wolodymyr Selenskij, in einer per Videoschal­te organisier­ten Aussprache mit den 27 EUChefs deutlich. „Damit die nächsten sechs Monate ohne Turbulenze­n vorübergeh­en, muss mehr getan werden“, mahnte Selenskij,

nachdem er sich ausführlic­h für die bereits geleistete humanitäre, finanziell­e und militärisc­he Hilfe bedankt hatte. „Vor allem brauchen wir Unterstütz­ung beim Kauf jenes Volumens von Erdgas, das verwendet wird, um den Schaden zu ersetzen, der durch die russischen Angriffe verursacht wird. Das sind rund zwei Milliarden Kubikmeter Gas.“

Weiters benötigt die Ukraine elektrisch­en Strom aus Kraftwerke­n in der EU: „So wie wir Ihnen helfen können, indem wir Elektrizit­ät exportiere­n, wenn wir unsere Stromerzeu­gung wieder am Laufen haben, brauchen wir jetzt Ihre Hilfe, um durch den Winter zu kommen.“Kostenpunk­t, laut Selenskijs Schätzung: rund 800 Millionen Euro. Sowohl die erbetenen

Gasvolumin­a als auch diese Stromliefe­rungen sollte die EU, ungeachtet der generellen Knappheit und Preislage, ohne allzu große Probleme bereitstel­len können.

Das würde grundsätzl­ich auch für den Kredit über 18 Milliarden Euro gelten, mit dem die Union ungefähr die Hälfte der ukrainisch­en Staatsausg­aben im Jahr 2023 finanziere­n würde. Die Ukraine müsste diesen Kredit über 30 Jahre zurückzahl­en, wobei die Zahlungen erst in einem Jahrzehnt beginnen und die Mitgliedst­aaten die Zinskosten aus eigener Tasche tragen. Der Kredit soll durch das EUBudget des Jahrs 2023 besichert werden, doch um das zu tun, braucht es die einstimmig­e Änderung der entspreche­nden EU-Budgetvors­chrift. Ungarn hatte sich dem zunächst verweigert und, wie eingangs geschilder­t, ein kleines Zugeständn­is in seinem Streit mit Brüssel über die Maßnahmen gegen Korruption und für Rechtsstaa­tlichkeit erlangt. Polens Regierungs­chef Morawiecki begründet sein Veto offiziell nun damit, dass dieser Mindestste­uersatz von 15 Prozent nicht so angewendet werden soll, wie es die EU im Rahmen der OECD mit dem Großteil des Rests der Welt vereinbart hatte.

Streit um Russland-Sanktionen

Doch im Hintergrun­d setzt Morawiecki­s nationalau­toritäre Regierung alle Hebel in Bewegung, um blockierte EU-Förderunge­n loszueisen, ohne allzu große Rechtsstaa­tsreformen durchzufüh­ren. Parallel dazu stockten am Donnerstag auf Botschafte­rebene auch die Verhandlun­gen über das neunte EU-Sanktionsp­aket gegen Russland. Hier blockierte­n Litauen und Polen eine Klausel, der zufolge eingefrore­ne Vermögensw­erte von russischen Düngemitte­l-Oligarchen ausnahmswe­ise freigegebe­n werden können, wenn dies der Sicherstel­lung der Nahrungsve­rsorgung in der Dritten Welt dient.

Selenskij war sich dieser innereurop­äischen Zwistigkei­ten bewusst: „Charles, mein Freund, ich bitte Sie sehr, sicherzust­ellen, dass unser Kampf um Frieden in der Ukraine und für ganz Europa nicht von Missverstä­ndnissen und Kontrovers­en zwischen manchen Mitgliedst­aaten abhängt.“

Streit um Preisdecke­l vertagt

Von einem weiteren heißen Eisen ließen die 27 Chefs angesichts seiner Komplizier­theit gleich ganz die Hände: über den EU-weiten Gaspreisde­ckel sollen sich nächste Woche die Energiemin­ister in einem erneuten Anlauf zusammenra­ufen.

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[ Reuters ] Frankreich­s Präsident Macron blieb beim EU-Gipfel trotz Problemen optimistis­ch.

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