Polens Veto auf Kosten Kiews
Europäischer Rat. Die existenziell notwendige Hilfe der EU für die Ukraine hing erneut am seidenen Faden nationaler Alleingänge.
Brüssel. Während russische Raketen erneut die komplette Stromversorgung der ukrainischen Stadt Cherson lahmlegten, die sinkenden Temperaturen das Leid der Ukrainer Tag für Tag verschärfen und der ukrainische Generalstab vor einer russischen Großoffensive mit dem Ziel warnt, Kiew im zweiten Anlauf einzunehmen, verstrickte sich die EU in einen neuen Vetostreit, der den bereits beschlossenen 18-Milliarden-EuroKredit für die Ukraine zu blockieren drohte.
Erst am späten Nachmittag mehrten sich Anzeichen, dass Polen seine Blockade gegen ein Paket aufgegeben habe, mit dem die Mitgliedstaaten erst am Montag Ungarn von seinem Veto abgebracht hatten. Die Ungarn erhielten im Gegenzug für ihre Zustimmung zu dem Ukraine-Kredit sowie zur Einführung eines Mindestsatzes für die Körperschaftsteuer in der Höhe von 15 Prozent das Zugeständnis, dass „nur“6,3 Milliarden Euro statt 7,5 Milliarden Euro ihrer EU-Kohäsionsförderungen blockiert werden, bis sie 27 Rechtsstaatsund Antikorruptionsreformen umgesetzt haben.
Nicht einmal ein nächtlicher Anruf des tschechischen Ministerpräsidenten,
Petr Fiala, bei seinem polnischen Amtskollegen, Mateusz Morawiecki, vermochte daran zunächst etwas zu ändern. Auch ein persönliches Treffen von Fiala, Morawiecki und der neuen italienischen Ministerpräsidentin, Giorgia Meloni, am Donnerstag vor Beginn des Europäischen Rates fruchtete nicht.
Selenskij fleht EU um Gas an
Was diese drei Mitglieder der politischen Parteienfamilie der Europäischen Konservativen und Reformer nicht zustande brachten, sollte im Verlauf des Gipfels im Kreis der 27 unter der Sitzungsleitung von Charles Michel, dem Präsidenten des Europäischen Rates, erst nach mehreren Stunden gelingen. Was Morawiecki im Gegenzug erhielt, war vorerst nicht bekannt. Zumindest endete der letzte Gipfel des verklingenden Jahres nicht mit einem schweren Rückschlag für die geopolitischen Ambitionen der Union, aber vor allem für die Ukraine.
Wie dringend die Hilfe der Europäer ist, machte der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskij, in einer per Videoschalte organisierten Aussprache mit den 27 EUChefs deutlich. „Damit die nächsten sechs Monate ohne Turbulenzen vorübergehen, muss mehr getan werden“, mahnte Selenskij,
nachdem er sich ausführlich für die bereits geleistete humanitäre, finanzielle und militärische Hilfe bedankt hatte. „Vor allem brauchen wir Unterstützung beim Kauf jenes Volumens von Erdgas, das verwendet wird, um den Schaden zu ersetzen, der durch die russischen Angriffe verursacht wird. Das sind rund zwei Milliarden Kubikmeter Gas.“
Weiters benötigt die Ukraine elektrischen Strom aus Kraftwerken in der EU: „So wie wir Ihnen helfen können, indem wir Elektrizität exportieren, wenn wir unsere Stromerzeugung wieder am Laufen haben, brauchen wir jetzt Ihre Hilfe, um durch den Winter zu kommen.“Kostenpunkt, laut Selenskijs Schätzung: rund 800 Millionen Euro. Sowohl die erbetenen
Gasvolumina als auch diese Stromlieferungen sollte die EU, ungeachtet der generellen Knappheit und Preislage, ohne allzu große Probleme bereitstellen können.
Das würde grundsätzlich auch für den Kredit über 18 Milliarden Euro gelten, mit dem die Union ungefähr die Hälfte der ukrainischen Staatsausgaben im Jahr 2023 finanzieren würde. Die Ukraine müsste diesen Kredit über 30 Jahre zurückzahlen, wobei die Zahlungen erst in einem Jahrzehnt beginnen und die Mitgliedstaaten die Zinskosten aus eigener Tasche tragen. Der Kredit soll durch das EUBudget des Jahrs 2023 besichert werden, doch um das zu tun, braucht es die einstimmige Änderung der entsprechenden EU-Budgetvorschrift. Ungarn hatte sich dem zunächst verweigert und, wie eingangs geschildert, ein kleines Zugeständnis in seinem Streit mit Brüssel über die Maßnahmen gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit erlangt. Polens Regierungschef Morawiecki begründet sein Veto offiziell nun damit, dass dieser Mindeststeuersatz von 15 Prozent nicht so angewendet werden soll, wie es die EU im Rahmen der OECD mit dem Großteil des Rests der Welt vereinbart hatte.
Streit um Russland-Sanktionen
Doch im Hintergrund setzt Morawieckis nationalautoritäre Regierung alle Hebel in Bewegung, um blockierte EU-Förderungen loszueisen, ohne allzu große Rechtsstaatsreformen durchzuführen. Parallel dazu stockten am Donnerstag auf Botschafterebene auch die Verhandlungen über das neunte EU-Sanktionspaket gegen Russland. Hier blockierten Litauen und Polen eine Klausel, der zufolge eingefrorene Vermögenswerte von russischen Düngemittel-Oligarchen ausnahmsweise freigegeben werden können, wenn dies der Sicherstellung der Nahrungsversorgung in der Dritten Welt dient.
Selenskij war sich dieser innereuropäischen Zwistigkeiten bewusst: „Charles, mein Freund, ich bitte Sie sehr, sicherzustellen, dass unser Kampf um Frieden in der Ukraine und für ganz Europa nicht von Missverständnissen und Kontroversen zwischen manchen Mitgliedstaaten abhängt.“
Streit um Preisdeckel vertagt
Von einem weiteren heißen Eisen ließen die 27 Chefs angesichts seiner Kompliziertheit gleich ganz die Hände: über den EU-weiten Gaspreisdeckel sollen sich nächste Woche die Energieminister in einem erneuten Anlauf zusammenraufen.