Was die nationalen Wörter des Jahres verraten
Sprache und Gesellschaft. Hat die Inflation unsere Kreativität gelähmt? Kann es noch eine Zeitenwende für Kobolde geben? Und warum scheuen Amerikaner die Gasbeleuchtung? Erhellendes zu den Wörtern von 2022.
Wenn das Geld weniger wert wird, gefriert der grantige Schmäh der Österreicher, und übrig bleibt nur ein freudloses Faktum: die Inflation, unser Wort des Jahres 2022. Vorbei die Zeiten, als eine „Willkommenskultur“für Flüchtlinge „situationselastisch“in Abwehrhaltung umschlug. Was betont gute Menschen zum „Fremdschämen“verleitete, den späteren „Schweigekanzler“und „Schattenkanzler“Kurz aber zur Idee, die Mittelmeer-Route zu schließen, was sein Vorgänger Kern für einen „Vollholler“hielt. Diese siegreichen Vokabeln aus dem vergangenen Jahrzehnt hatten Charme und Pfiff. Heute misst sich unsere miese Befindlichkeit nur noch in Teuerungsraten. Die Inflation als Jahreswort verbindet uns übrigens mit den Bulgaren, was auf eine Schicksalsgemeinschaft hindeutet, die wir aber in Sachen Schengen störrisch negieren.
Keine Leidensgenossen sind die unverschämt reichen Schweizer: Ihr unverschämt starker Franken schützt sie vor dem Gespenst der Geldentwertung. Angst haben aber auch sie, vor einer „Strommangellage“, dem helvetischen Pendant für den Energieengpass. Ertönt dieses bürokratische Ungetüm von Wort, schlottern den Deutschschweizern die Knie. Vor dem drohenden
Ungemach bunkern sie Taschenlampen und Wolldecken. Auf die Straße gehen hingegen ihre frankophonen Landsleute, kämpferisch und mit erhobenen Fäusten: „boycotter“lautet die Devise des Jahres in der Romandie. Der Geist der Revolution weht über den Jura von Frankreich herüber. Schuld an der Mangellage ist doch ein Kriegsherr im Kreml! Also „fraternité“mit den Überfallenen, „liberté“für die Ukraine und „boycotter“für russischen Kaviar (und Katar)!
Pathetische Deutsche, faule Briten
Das Große hinter der kleinen Misslichkeit erkannte man auch in Deutschland: „Wir erleben eine Zeitenwende“, sprach Kanzler Scholz kurz nach Kriegsbeginn, und seitdem sprechen es ihm die Deutschen nach. So bringen sie, wie einst Hegel, den Weltgeist auf den Begriff. Nur schreitet dieser Geist nicht mehr hoffnungsfroh in die Zukunft fort, sondern wendet sich zurück in finstere Zeiten. Aber wie im deutschen Idealismus folgten dem Dichten und Denken wenig Taten: Zeitenwende hin oder her, vor dem Liefern von Waffen zierten sich die Deutschen lang.
Und die Briten? Ihre Königin ist tot, zwei Premiers sind unter peinlichen Umständen gescheitert, eine Streikwelle rollt übers Land. Da nichts mehr hinhaut, hauen sie alles hin – und schalten in den „goblin mode“. Sie verhalten sich wie Kobolde, „faul, schlampig und selbstgefällig“, erläutert das „Oxford English Dictionary“zur Kür seines „Word of the Year“. Eingebunkert im „home, sweet home“, weigern sie sich, jemals wieder in ihr „office“zurückzukehren. So lungern sie rum, in löchriger Jogginghose und schmutzigem alten Pullover, schleppen sich in Selbstisolation durch öde Arbeitstage, fressen aus dem Kochtopf, schauen seichte Serien und machen sich nicht einmal mehr für Instagram hübsch. Wir merken auf: Diese soziologischen Long-Covid-Symptome zeigen sich auch hierzulande in epidemischem Ausmaß.
Kommt das Licht aus Übersee? „Gaslighting“klingt ja fast so, und dank ihres Schiefergases brauchen die Amerikaner kein Dunkel zu fürchten. Aber ach: Gemeint ist das Irreführen, Täuschen und systematische Belügen, das Trump praktiziert hat. Seitdem wittern es die Bürger der USA hinter jeder Äußerung von Menschen, die nicht ihr eigenes Weltbild teilen. Alles hüllt sich in einen Nebel von Misstrauen und Zweifel. Da leben wir doch lieber hier. Wickeln uns in saubere Schals, gehen gesellig aus und erfreuen uns an den letzten Tagen von etwas, was es noch nie gab und für das wir auch erst ein Wort erfinden mussten: die Glühwein-WM.