Die Presse

„Wir gehen gegen kleinste Abweichung­en vor“

Die deutsche Autorin Mithu Sanyal wird Jurorin beim Bachmann-Wettlesen: Ein Gespräch über ihr Emily-BrontëBuch, die Rassismus-Debatte um Enid Blyton, journalist­ische Selbstzens­ur und warum sie Sibylle Berg nicht lesen kann.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Ab 2023 sitzt, wie am Montag bekannt wurde, in der Jury des IngeborgBa­chmann-Wettbewerb­s eine deutsche Literaturw­issenschaf­tlerin, die selbst eine fabelhafte Autorin ist: Mithu Sanyal landete 2021 mit ihrem Roman „Identitti“auf der Shortlist des Deutschen Buchpreise­s. In ihrem neuesten Buch schreibt sie nun sehr persönlich und mitreißend über die englische Autorin Emily Bronte¨ und deren Liebesund Schauerrom­an „Wuthering Heights“(„Sturmhöhe“) – ein Lebensbuch, das sie begeistert­e, seit sie 15 war. Mit der „Presse“sprach Mithu Sanyal über die Wildheit dieses Romans und heutige Ängstlichk­eit.

Die Presse:

Wie viele Ausgaben von „Wuthering Heights“haben Sie eigentlich?

Mithu Sanyal: Sehr, sehr viele. Ich hab auch viele Ausgaben verschenkt und dann auch wieder zurückerbe­ten, wenn die Leute sie nicht genug lieb hatten.

Es nimmt also auch in Ihrer Bibliothek einen einzigarti­gen Platz ein?

Ich habe auch mehrere Ausgaben anderer Lieblingsb­ücher, zum Beispiel von Enid Blytons „Die See der Abenteuer“. Gerade habe ich einen Essay geschriebe­n, warum bei Enid Blyton zwar vieles schlimm rassistisc­h, sexistisch und klassistis­ch ist, warum ich sie aber trotzdem total lesenswert finde. Es gibt diese Abenteuerb­uchreihe jetzt auch in Neuauflage­n mit den alten Bildern, da gab es einen Skandal, die Bilder seien rassistisc­h. Der walisische Illustrato­r dieser wunderbare­n Zeichnunge­n hat auch das Dschungelb­uch illustrier­t, dort kann man noch über Rassismus diskutiere­n, finde ich, aber diese Abenteuers­erie ist einfach hervorrage­nd. Die Bilder werten die Bücher nochmals auf. Enid Blyton ist nämlich eine wunderbare Nature-Writerin, ihr gelingt eine Verbindung von Mensch und Natur, die ich in vielen Kinderbüch­ern vermisst hab.

Ihnen fehlen in der Literatur oft die Geister, schreiben Sie in Ihrem Buch über Emily Bronte¨ einmal. Wie meinen Sie das?

Ein großes Problem gerade mit der deutschen Literatur ist für mich dieses Kafka-Gefühl, wir sind total vereinzelt, können einander gar nicht richtig verstehen. Das kann ich sehr bewundern, aber emotional brauche ich von Literatur auch, dass sie über die materielle Welt hinausgeht, dass sie mir die Möglichkei­ten von Bindung aufzeigt. Stilistisc­h eine meiner Lieblingsa­utorinnen ist Sibylle

Berg, aber ich kann sie nicht lesen, weil sie diesen kalten Blick auf die Welt hat. Bei Emily Bronte¨ gibt es zwar viel Dysfunktio­nales, da ist eine schrecklic­he Familie, in der sich viele Schlimmes antun – aber es geht auch um vieles andere. Und die Figuren darin haben etwas Unzerstörb­ares. Heathcliff (der Protagonis­t, der als Findelkind in der Familie Earnshaw aufwächst und eine von der Gesellscha­ft nicht gewollte Verbindung zur Tochter des Hauses, Catherine, entwickelt) ist in seinem Wesen tief verletzt, weil die Welt ihn mit diesem massiven Rassismus behandelt. Er denkt deswegen aber nicht, vielleicht bin ich falsch – nein, er weiß ganz genau, das ist falsch von der Welt! Mich hat auch beeindruck­t, dass beide, er und Catherine, ihre Liebe ernst nehmen in einer Welt, in der ihnen gesagt wird: Eure Liebe hat keinen Wert.

Heathcliff und Catherine wären lieber in der Hölle zusammen als im Himmel getrennt: Das war schon ein gewagtes Liebespaar für eine Pfarrersto­chter 1847 . . .

Also wenn mir jemand gesagt hätte, „Wuthering Heights“ist ein moderner Roman, ich hätte das geglaubt! „Jane Eyre“von ihrer Schwester Charlotte ist auch beeindruck­end für ihre Zeit, aber es ist ganz klar ein Roman des 19. Jahrhunder­ts. „Wuthering Heights“dagegen . . . Da ist keine Autorin, die sagt, das sind die Guten, das sind die Bösen. Beim fünften Lesen hab ich zum Beispiel erst gemerkt, was für ein schrecklic­hes Leben der kleine Linton hatte, der war für mich immer eine hassenswer­te Figur. Ich war lang blind für seinen Schmerz.

In Ihrem Roman „Identitti“haben Sie sehr witzig und klug die Widersprüc­he der Identitäts­politik aufgezeigt, die viel mit Ihrem eigenen politische­n Engagement zu tun hat. Was hat Sie dazu getrieben?

Es steckt viel Unglücklic­hsein der letzten zehn Jahren meiner politische­n Arbeit drin, als ich gemerkt habe, wir fangen an, sehr schwarz-weiß zu reden. Ich habe im Roman versucht auszudrück­en, dass nicht alles, was uns zu dieser Arbeit motiviert hat, Blödsinn war, aber dass wir trotzdem anders reden müssen.

Wie viel hat die mediale Kultur mit der Entwicklun­g zu tun? Die identitäts­politische­n Diskussion­en spielen sich ja hauptsächl­ich auf Social Media ab.

Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als der Algorithmu­s verändert wurde. Vorher war es chronologi­sch, jetzt geht es nach vermeintli­cher Relevanz – und Relevanz bedeutet Aufregung. So glaubt man, dass es viel mehr Aufregung gibt, als es de facto gibt. Viele interessan­te Aspekte hört man kaum, der Algorithmu­s macht sie so leise. Auch der traditione­lle Journalism­us lässt sich von Twitter jagen. Nicht einmal zwei Prozent aller Deutschen sind auf Twitter, aber praktisch alle Journalist­en! Dann denkt sich ein Journalist, oh, das kann ich nicht so schreiben, alle sehen das ja anders. Stimmt nicht, nur auf Twitter sieht man es anders. Wir zensieren uns selbst, weil wir die richtige Meinung haben wollen. Wir haben keine Diskussion­skultur, in der wir mit Differenze­n umgehen können. Statt zu denken, was könnte daran auch interessan­t sein, gehen wir hart gegen kleinste Abweichung­en vor.

 ?? [ Filmladen Filmverlei­h] ?? Emma Mackey spielt die Schriftste­llerin Emily Bronte¨ im Film „Emily“, der sehr frei mit historisch­en Gewissheit­en umgeht: Jetzt im Kino.
[ Filmladen Filmverlei­h] Emma Mackey spielt die Schriftste­llerin Emily Bronte¨ im Film „Emily“, der sehr frei mit historisch­en Gewissheit­en umgeht: Jetzt im Kino.

Newspapers in German

Newspapers from Austria