Die Presse

Ukraine-Krieg sorgt für neue Bewegung in Libyen

Machtvakuu­m. In Libyen herrscht weiter Chaos. Experten drängen auf neue Ansätze. Der Abzug Hunderter russischer Söldner schafft Spielräume.

- Von unserem Korrespond­enten THOMAS SEIBERT

Istanbul/Tripolis. Abdoulaye Bathily ist erst seit September im Amt, doch er ist bereits frustriert. Als UN-Beauftragt­er für Libyen soll der senegalesi­sche Diplomat helfen, den Konflikt in dem nordafrika­nischen Bürgerkrie­gsland beizulegen. Aber er kommt nicht voran. Er habe den Eindruck, dass einige Akteure in Libyen die Bemühungen um Wahlen „aktiv behindern“, sagte Bathily kürzlich.

Libyen hat seit dem Tod von Diktator Muammar Gaddafi vor elf Jahren keine Regierung mehr, die das ganze Gebiet des ölreichste­n Staats Afrikas kontrollie­rt. Rivalisier­ende Regierunge­n im Ost- und

Westteil des Landes mit ihren ausländisc­hen Unterstütz­ern haben bisher alle Friedensbe­mühungen vereitelt. Obwohl seit 2020 ein Waffenstil­lstand gilt, gibt es immer wieder Gewaltausb­rüche.

Die von der UNO vor einem Jahr geplanten Wahlen konnten nicht stattfinde­n, weil sich Abdulhamid Dbeibah, der Premier der internatio­nal anerkannte­n Übergangsr­egierung, und andere nicht an die Spielregel­n hielten. Einen neuen Wahltermin gibt es nicht.

Experten plädieren nun für neue Ansätze bei der Suche nach einer Lösung. Die UNO habe es nicht geschafft, die libyschen und ausländisc­hen Akteure zu zügeln und die Bevölkerun­g und die internatio­nale Gemeinscha­ft für eine

Lösung zu gewinnen, sagt Nebahat Tanriverdi von der Berliner Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP) zur „Presse“. Das von der UNO verfolgte Modell der Machtteilu­ng zwischen verschiede­nen Gruppen funktionie­re in Libyen nicht.

Emadeddin Badi von der Denkfabrik Atlantic Council rät dem neuen UN-Gesandten, die politische­n Eliten in Libyen zu umgehen. Bathily solle versuchen, die ausländisc­hen Unterstütz­er der libyschen Kontrahent­en einzubinde­n. Dbeibah wird von der Türkei unterstütz­t, während Russland und Ägypten auf der Seite von GegenPremi­er Fathi Bashagha stehen. Der Ukraine-Krieg könnte neue Spielräume schaffen. Für Russland hat Libyen wegen des Krieges an

Bedeutung verloren. Seit Kriegsausb­ruch soll der Kreml Hunderte Kämpfer der Söldner-Firma Wagner abgezogen und in die Ukraine geschickt haben; Berichten zufolge sind von 2200 Söldnern nur 900 in Libyen geblieben.

Rolle Moskaus geschwächt

Ganz aufgeben will Russland in Libyen nicht. Die Konzentrat­ion auf die Ukraine habe die Rolle Moskaus in Libyen geschwächt, ohne die Machtverhä­ltnisse dort grundsätzl­ich zu verändern, sagt SWPExperti­n Tanriverdi. Trotzdem ist eine neue Dynamik entstanden. Akteure wie die Türkei und Ägypten versuchen, den Teilabzug Russlands für sich zu nutzen. Gleichzeit­ig bemühen sich Ankara und Kairo, die seit Jahren anhaltende Krise in ihren Beziehunge­n zu überwinden. Tanriverdi sieht darin einen Hoffnungss­chimmer: Sollten sich Türkei und Ägypten auf eine konstrukti­vere Politik für das Land einigen, könnte das positive Auswirkung­en haben.

Derzeit gebe es aber „keine Anzeichen für eine mögliche Einigung auf Wahlen in nächster Zeit“, erklärte der EU-Außenbeauf­tragte, Josep Borrell. Für die EU ist die Lage in Libyen wichtig, weil aus dem Land immer mehr Flüchtling­e nach Europa kommen. Innerhalb der letzten zwölf Monate trafen laut UNO 51.000 Flüchtling­e aus Libyen per Boot in italienisc­hen Häfen ein – mehr als eineinhalb Mal so viele wie 2021.

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