Ukraine-Krieg sorgt für neue Bewegung in Libyen
Machtvakuum. In Libyen herrscht weiter Chaos. Experten drängen auf neue Ansätze. Der Abzug Hunderter russischer Söldner schafft Spielräume.
Istanbul/Tripolis. Abdoulaye Bathily ist erst seit September im Amt, doch er ist bereits frustriert. Als UN-Beauftragter für Libyen soll der senegalesische Diplomat helfen, den Konflikt in dem nordafrikanischen Bürgerkriegsland beizulegen. Aber er kommt nicht voran. Er habe den Eindruck, dass einige Akteure in Libyen die Bemühungen um Wahlen „aktiv behindern“, sagte Bathily kürzlich.
Libyen hat seit dem Tod von Diktator Muammar Gaddafi vor elf Jahren keine Regierung mehr, die das ganze Gebiet des ölreichsten Staats Afrikas kontrolliert. Rivalisierende Regierungen im Ost- und
Westteil des Landes mit ihren ausländischen Unterstützern haben bisher alle Friedensbemühungen vereitelt. Obwohl seit 2020 ein Waffenstillstand gilt, gibt es immer wieder Gewaltausbrüche.
Die von der UNO vor einem Jahr geplanten Wahlen konnten nicht stattfinden, weil sich Abdulhamid Dbeibah, der Premier der international anerkannten Übergangsregierung, und andere nicht an die Spielregeln hielten. Einen neuen Wahltermin gibt es nicht.
Experten plädieren nun für neue Ansätze bei der Suche nach einer Lösung. Die UNO habe es nicht geschafft, die libyschen und ausländischen Akteure zu zügeln und die Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft für eine
Lösung zu gewinnen, sagt Nebahat Tanriverdi von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zur „Presse“. Das von der UNO verfolgte Modell der Machtteilung zwischen verschiedenen Gruppen funktioniere in Libyen nicht.
Emadeddin Badi von der Denkfabrik Atlantic Council rät dem neuen UN-Gesandten, die politischen Eliten in Libyen zu umgehen. Bathily solle versuchen, die ausländischen Unterstützer der libyschen Kontrahenten einzubinden. Dbeibah wird von der Türkei unterstützt, während Russland und Ägypten auf der Seite von GegenPremier Fathi Bashagha stehen. Der Ukraine-Krieg könnte neue Spielräume schaffen. Für Russland hat Libyen wegen des Krieges an
Bedeutung verloren. Seit Kriegsausbruch soll der Kreml Hunderte Kämpfer der Söldner-Firma Wagner abgezogen und in die Ukraine geschickt haben; Berichten zufolge sind von 2200 Söldnern nur 900 in Libyen geblieben.
Rolle Moskaus geschwächt
Ganz aufgeben will Russland in Libyen nicht. Die Konzentration auf die Ukraine habe die Rolle Moskaus in Libyen geschwächt, ohne die Machtverhältnisse dort grundsätzlich zu verändern, sagt SWPExpertin Tanriverdi. Trotzdem ist eine neue Dynamik entstanden. Akteure wie die Türkei und Ägypten versuchen, den Teilabzug Russlands für sich zu nutzen. Gleichzeitig bemühen sich Ankara und Kairo, die seit Jahren anhaltende Krise in ihren Beziehungen zu überwinden. Tanriverdi sieht darin einen Hoffnungsschimmer: Sollten sich Türkei und Ägypten auf eine konstruktivere Politik für das Land einigen, könnte das positive Auswirkungen haben.
Derzeit gebe es aber „keine Anzeichen für eine mögliche Einigung auf Wahlen in nächster Zeit“, erklärte der EU-Außenbeauftragte, Josep Borrell. Für die EU ist die Lage in Libyen wichtig, weil aus dem Land immer mehr Flüchtlinge nach Europa kommen. Innerhalb der letzten zwölf Monate trafen laut UNO 51.000 Flüchtlinge aus Libyen per Boot in italienischen Häfen ein – mehr als eineinhalb Mal so viele wie 2021.