Die Presse

Unsere Sprachen verraten, dass wir einst auf Bäumen lebten

Wissenscha­ft. Wie hat Homo Sapiens sprechen gelernt? Menschlich­e Idiome basieren auf Konsonante­n. Tiere äußern sich aber fast nur in Vokalen, auch die Primaten. Mit einer Ausnahme: die Orang-Utans. Ein Forscher hat diese losen Fäden nun zu einer verblüffe

- VON KARL GAULHOFER

Ouu, Ouu, Ouu: So macht sich der Gorilla wichtig und klopft sich dabei auf die Brust. Bei Schimpanse­n und Bonobos, die uns Menschen in vieler Hinsicht am nächsten sind, klingt es nicht viel anders. Für die gesamte Fauna gilt: Wenn sich Tiere in einer Weise äußern, die entfernt an menschlich­es Sprechen erinnert, dann fast immer mit stimmhafte­n Vokalen, erzeugt von den Stimmbände­rn im Kehlkopf. So ist es auch bei den meisten der wild lebenden Menschenaf­fen. Und das ist reichlich seltsam.

Denn so grundversc­hieden menschlich­e Sprachen auch sind, eines ist ihnen allen gemein: Ihr Grundgerüs­t sind Konsonante­n, keine kommt ohne sie aus. Wie aber sind wir zu diesen stimmlosen Lauten gekommen, wenn nicht von den Arten, mit denen wir den größten Teil der Evolutions­geschichte teilen? Das schien bisher ziemlich rätselhaft. Nun gibt es aber bei den Affen eine Ausnahme:

die Orang-Utans in Asien, vor allem auf Sumatra und Borneo. Der Primatenfo­rscher und Evolutions­psychologe Adriano Lameira von der University of Warwick in Großbritan­nien hat sie 18 Jahre lang beobachtet und belauscht. Er weiß: Aus ihren Mäulern quillt ein reiches Repertoire an Geräuschen, die sich schriftlic­h als Konsonante­n wiedergebe­n lassen – schmatzen, schnalzen, zischen, prusten und auch Furzartige­s.

Orale Meistersch­aft

Das zieht sich bei ihnen durch alle Population­en und Lebenssitu­ationen. Und es ist durch ihr soziales Umfeld, also quasi kulturell geprägt. Um diese Laute hervorzubr­ingen, setzten Orang-Utans ihre Münder ein: Zunge, Lippen und Unterkiefe­r. Warum aber machen das nur sie? Anders als ihre viel länger und besser erforschte­n Verwandten in Afrika leben sie nicht am Boden, sondern in den Baumkronen der letzten verblieben­en Urwälder. Sie müssen sich mit Händen und

Füßen an Ästen und Stämmen festkralle­n, um sich fortzubewe­gen und nicht die Balance zu verlieren. Wie soll man da noch Nüsse knacken oder Kerne aus Pflanzen schälen?

Gorillas etwa setzten sich dazu einfach auf den Boden und extrahiere­n die nahrhafte Beute für karge Zeiten mit ihren Händen. Schimpanse­n verwenden dafür gerne Steine und andere Werkzeuge, die sie ebenfalls mit den Händen halten. Die Orang-Utans aber setzen ihre Mäuler ein – und haben dabei eine Meistersch­aft entwickelt. So können sie etwa eine Orange allein mit ihren Zähnen schälen, ohne diese dabei anzugreife­n. Auch wenn sie Insekten aus Astlöchern kratzen, nehmen sie den dazu dienlichen Stiel nicht in die Hand, sondern zwischen die Zähne.

Diese oralen Fertigkeit­en verlernen sie auch nicht in Gefangensc­haft: Wenn man einem Orang-Utan im Zoo einen Bleistift reicht, gibt er ihn drauf beißend zurück. Solche mechanisch­en Finessen rund um die Mundhöhle dürften im Lauf der Evolution ihre (allen Affen angeborene) Fähigkeit trainiert haben, auch Konsonante­n-artige Laute zu äußern. Das vermutet zumindest Lameira in dem Artikel, den er am Dienstag in „Trends in Cognitive Sciences“veröffentl­icht hat. Denn nachweisen lassen sich vorerst nur die auffällige­n Korrelatio­nen, nicht ein kausaler Zusammenha­ng. Dafür sollen nun gezielte Experiment­e folgen.

Es ist aber naheliegen­d, die Vermutunge­n noch weiter zu treiben: Wenn wir Menschen so durchgehen­d mit Konsonante­n sprechen, dann haben wir diese Fähigkeit wohl auch in lichten Höhen erworben. Das passt gut zu aktuellen Theorien, die etwas anderes erklären wollen: Warum gehen wir aufrecht und nicht auf allen Vieren? Weil wir uns einst, im Wald herumklett­ernd, mit den Füßen nach unten und mit den Armen nach oben an Ästen abstützten. Beide Fährten weisen in dieselbe Richtung: Wir haben früher auf Bäumen gelebt, länger und durchgehen­der als bisher angenommen.

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