Mein Vater, was birgst du so bang dein Gesicht?
Im Kino.
Ein Mädchen und ihr Papa auf Urlaub in der Türkei: eitel Wonne unter strahlender Sonne. Doch im Vater rumoren Dämonen, die er nicht verbergen kann. Charlotte Wells’ bittersüßes Debüt „Aftersun“berückte in Cannes die Kritik.
Als du elf warst“, fragt Sophie, „wie hast du dir da vorgestellt, dass du heute sein würdest?“Sophie ist selber elf, sie hat die Kamera auf ihren dreißigjährigen Vater gerichtet. Sein junges Gesicht liegt im Schatten, er lächelt gequält. Und dreht sich weg, ohne zu antworten.
Der Film „Aftersun“ist ein Versuch, diesen Mann wieder zurückzudrehen. Ins Bild, ins Licht. Einen liebenswerten Verlorenen, eine herzensgute, aber traurige Person. Versuchsleiterin ist die aus Schottland gebürtige Regisseurin Charlotte Wells. Ihr Langfilmdebüt begeisterte heuer in Cannes die ArthausFilmkritik. Nach dessen Österreich-Premiere bei der Viennale hat der Stadtkino-Verleih es bundesweit ins Kino gebracht – in Kooperation mit dem trendigen Kunstfilm-Streamingdienst Mubi, der sich seit einiger Zeit auch als Weltvertrieb verdient macht.
Schon die grieselige Textur der Camcorder-Aufnahmen, die „Aftersun“einleiten, markiert den Film als Rückschaustück: Es geht um Erinnerung – persönlich, bittersüß, wohlig-wehmütig, auch schmerzhaft. Wells nennt ihren Erstling „emotional autobiografisch“. Kein Bekenntnisfilm also, aber einer, der sich aus privaten Eindrücken und Erfahrungen speist. Und der sich auch so anfühlt – wie aus dem Gedächtnis seiner Hauptfigur Sophie (Frankie Corio) gepflückt.
Wir sehen sie als Kind kurz vor der Pubertät, gemeinsam mit Papa Calum (der aufstrebende irische Jungstar Paul Mescal). Die beiden sind auf Kurzurlaub in der Türkei, irgendwann in den Neunzigern. Animateure tanzen Macarena, im Radio läuft Britpop von Blur. Sophies Mutter, bei der sie lebt, ist zu Hause in Edinburgh geblieben, die Eltern leben schon lang getrennt. Vordergründig ist alles eitel Wonne unter strahlender Sonne, obwohl sich das Hotel im ständigen, lärmigen Umbau befindet. Untertags mischt sich Calum zusammen mit Sophie ungeniert unter die Gäste einer anderen Bettenburg, wo das fidele Zweigespann sorglos Billard spielen kann. So leicht lässt er sich die wertvolle Vater-Tochter-Zeit nicht vermiesen!
Doch hinter seiner Nonchalance rumoren Dämonen, die er nicht vor seiner feinfühligen Begleiterin zu verbergen vermag. Depressionen, Panikattacken, schlaflose Nächte: All das deutet der Film nur an, mit bangen, fahrigen Zwischenschnitten, verräterischen Sprüchen und flüchtigen, surrealen Ansichten eines rastlos im Nachtklublicht tanzenden Calum. Der Ursprung seiner Unruhe bleibt diffus. Was durchscheint, sind eine schwierige Kindheit und ein Hang zum
Drogenabusus. „Kennst du das Gefühl, wenn du nach einem langen Tag heimkommst und alles an dir müde ist, als würdest du versinken?“, fragt ihn Sophie einmal ohne Hintergedanken. Kurz sieht es so aus, als würde er sagen: „Ja.“Doch dann sagt er: „Wir sind hier, um Spaß zu haben!“Und spuckt Zahnpasta gegen sein Spiegelbild.
Sommerkino auf dunklem Grund
Aus dem Kontrast zwischen der anheimelnden Atmosphäre der sommerlichen ResortKulisse und Calums innerem Kampf zieht „Aftersun“seine sanfte Spannung. Wells blickt mit Sophies Augen auf diese Welt, der eine berückende Sinnlichkeit eignet: Sonnencreme auf der Haut, tiefe Atemzüge am Beckenrand. Nicht von ungefähr liegt ein Buch mit Gedichten der großen schottischen Natur- und Menschenfilmerin Margaret Tait als Requisit im Hotelzimmer, nicht von ungefähr hat der renommierte US-Sensibilist Barry Jenkins den Film mitproduziert.
Langsamer Sommer: Alles schwebt, so schön schwerelos, wie die unbekümmerten Schwimmer im Pool. Oder die Paragleiter, die über den Urlaubern ihre Kreise drehen. Derweil lugt Sophie vorsichtig in Richtung
Ältersein, schaut netten, feucht-fröhlichen Teenies beim Tändeln zu, wehrt nicht ab, als ein gleichaltriger Bub sie küssen will.
Was sie nicht sieht und begreift, ist die Tiefe von Calums Schmerz: Warum er „Losing My Religion“nicht mehr vor Publikum mit ihr singen will, warum er fahrlässig auf dem Balkongeländer balanciert oder nachts volltrunken ins Wasser geht. Die Kamera starrt lang, beängstigend lang, auf das finstere,
rauschende Meer. Verstehen kann das alles nur Sophies älteres Ich, das in „Aftersun“ab und zu aufblitzt: eine erwachsene Frau und Mutter, die in alten Camcorder-Aufnahmen nach Antworten sucht – vielleicht auch nur nach einem Lächeln.
Was sie findet, reicht für einen Abschied. Und obwohl Wells das Pathos des Loslassens am Schluss etwas zu dick aufträgt, weinen wir gern ein paar befreiende Tränen mit ihr.