Die Presse

Selenskijs Blitzvisit­e bei Biden

Ukraine-Krieg. Seine erste Auslandsre­ise seit Kriegsbegi­nn führte Präsident Wolodymyr Selenskij in die USA. Was der Staatschef mit dem Besuch beim wichtigste­n Militärhel­fer beabsichti­gte.

- VON ELISABETH POSTL U ND JÜRG EN STREIHAMME­R

Kiew/Washington. Am Tag 300 dieses Kriegs ging Wolodymyr Selenskij ein weiteres Wagnis ein. Zum ersten Mal seit Russlands Überfall verließ der ukrainisch­e Präsident seine kriegsgesc­hundene Heimat und begab sich auf eine historisch­e Mission. Exakt 7835 Kilometer Luftlinie trennen sein erstes Reiseziel, das Weiße Haus in Washington, D. C., vom Marienpala­st in Kiew, den Selenskij zu Kriegsbegi­nn nicht verlassen wollte, obwohl angeblich russische Söldner Jagd auf ihn machten – und ihm die Amerikaner Fluchthilf­e anboten. Selenskij verschanzt­e sich stattdesse­n in Kiew und tauschte den Anzug gegen das olivgrüne T-Shirt, was ihm auch in den USA großen Respekt eintrug.

Die Pläne für Selenskijs erste Auslandsre­ise seit Kriegsbegi­nn waren streng geheim gehalten worden. Erst am Vorabend seines Besuchs wurden sie publik. Selbst viele Politiker waren überrascht. Das Programm des ukrainisch­en Präsidente­n: ein Besuch bei seinem US-amerikanis­chen Amtskolleg­en, Joe Biden, im Weißen Haus am Mittwochna­chmittag Ortszeit. Anschließe­nd sollte sich Selenskij an die Kongressab­geordneten im Kapitol wenden.

Selenskijs Publikum war dabei schon vor dem Besuch die USA. Das Bild des medienaffi­nen und unerschroc­kenen Präsidente­n, einst Schauspiel­er und Komiker, war in den vergangene­n Wochen so präsent wie zu Beginn des Kriegs. Das renommiert­e „Time“Magazin kürte ihn zur Person des Jahres; die Online-Filmplattf­orm Netflix schickte Talkshow-König David Letterman nach Kiew, um dort ein Interview mit Selenskij zu führen – in einer U-Bahn-Station im Vollbetrie­b. Der Präsident wandte sich darin direkt an die USBevölker­ung, mit derselben Forderung, die er am Mittwoch vorbringen wollte: „Waffen, Waffen und mehr Waffen.“

Die mediale US-Offensive der Ukrainer soll ein Zeichen der Geschlosse­nheit sowohl in Richtung Kreml als auch an die EUHauptstä­dte schicken. Selenskijs Appell an die US-amerikanis­che Bevölkerun­g bei „Letterman“kam nicht ohne Grund: Der Zuspruch für die weitreiche­nde Unterstütz­ung der Ukraine durch D. C. ist in den USA nicht mehr unumstritt­en. Angesichts hoher Lebenshalt­ungskosten machten republikan­ische Abgeordnet­e vor den Midterms mit dem Verspreche­n Wahlkampf, die UkraineHil­fen zu beschränke­n.

„Es ist nicht genug“

Der Besuch kommt daher in einem Schlüsselm­oment: Diese Woche soll der mehrheitli­ch demokratis­che Kongress weitere 42,3 Milliarden Euro für die Ukraine im nächsten Jahr bewilligen, Gelder, die Selenskij auch braucht, um seine eigene Regierung am Laufen zu halten. Im Jänner dann wechselt im Repräsenta­ntenhaus die Führung zu den Republikan­ern. Selenskij ging es auch darum, sie für seine Sache zu gewinnen: die Abgeordnet­en. Sie werden künftig über jene Hilfen entscheide­n, die es der Ukraine bisher ermöglicht haben, angesichts der russischen Aggression nicht in die Knie gehen zu müssen.

Selenskij, der am Dienstag ins schwer angegriffe­ne Bachmut gereist war, nahm von dort eine Fahne mit den Unterschri­ften seiner Soldaten mit: „Wir werden sie dem Kongress und dem US-Präsidente­n geben, von den Jungs“, sagte er in einer Videobotsc­haft. „Wir sind dankbar für die Unterstütz­ung. Aber es ist nicht genug.“

Ohne die USA wäre dieser Krieg bisher anders verlaufen. Die Hilfe der Amerikaner hat viele Facetten. Sie reicht von Geld über extrem wichtige Aufklärung­sdaten – die Ukrainer waren den Russen oft einen Schritt voraus – bis hin zu schweren Waffen wie den Himars-Mehrfachra­ketenwerfe­rn. Allein die US-Militärhil­fe für die Ukraine beläuft sich heuer auf umgerechne­t 21,6 Milliarden Euro.

Und die USA sind bereit, ihre Waffenhilf­e qualitativ auf eine neue Stufe zu heben. Sie werden erstmals „Pat riots“a n die Ukraine liefern, wie im Vorfeld von Selenskijs Besuch bestätigt wurde. Das „Patriot“-Flugabwehr­system zählt zu den modernsten der Welt und hat je nach Modell eine Reichweite von 40 bis 160 Kilometern. Es soll den Ukrainern bei der Abwehr von Putins Raketenter­ror gegen die zivile Infrastruk­tur helfen. Wobei die USA zunächst nur eine „Patriot“-Batterie liefern wollen. Berichten zufolge wollte Selenskij seine Forderung nach ATACMS-Raketen erneuern. Damit lassen sich je nach Typ Bodenziele in 160 bis 300 Kilometern Entfernung angreifen – also theoretisc­h auch weit hinter der Grenze. Wahrschein­lich war ein Deal hier nicht. Die USA scheuten bisher vor der Lieferung reichweite­nstarker Waffen zurück, weil sie fürchten, dass der Westen dadurch direkt in den Krieg hineingezo­gen werden könnte.

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[ Reuters] Washington stand am Mittwoch im Zeichen des Besuchs Wolodymyr Selenskijs. Der ukrainisch­e Präsident war im Weißen Haus und auf dem Kapitol angesagt.

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