Selenskijs Blitzvisite bei Biden
Ukraine-Krieg. Seine erste Auslandsreise seit Kriegsbeginn führte Präsident Wolodymyr Selenskij in die USA. Was der Staatschef mit dem Besuch beim wichtigsten Militärhelfer beabsichtigte.
Kiew/Washington. Am Tag 300 dieses Kriegs ging Wolodymyr Selenskij ein weiteres Wagnis ein. Zum ersten Mal seit Russlands Überfall verließ der ukrainische Präsident seine kriegsgeschundene Heimat und begab sich auf eine historische Mission. Exakt 7835 Kilometer Luftlinie trennen sein erstes Reiseziel, das Weiße Haus in Washington, D. C., vom Marienpalast in Kiew, den Selenskij zu Kriegsbeginn nicht verlassen wollte, obwohl angeblich russische Söldner Jagd auf ihn machten – und ihm die Amerikaner Fluchthilfe anboten. Selenskij verschanzte sich stattdessen in Kiew und tauschte den Anzug gegen das olivgrüne T-Shirt, was ihm auch in den USA großen Respekt eintrug.
Die Pläne für Selenskijs erste Auslandsreise seit Kriegsbeginn waren streng geheim gehalten worden. Erst am Vorabend seines Besuchs wurden sie publik. Selbst viele Politiker waren überrascht. Das Programm des ukrainischen Präsidenten: ein Besuch bei seinem US-amerikanischen Amtskollegen, Joe Biden, im Weißen Haus am Mittwochnachmittag Ortszeit. Anschließend sollte sich Selenskij an die Kongressabgeordneten im Kapitol wenden.
Selenskijs Publikum war dabei schon vor dem Besuch die USA. Das Bild des medienaffinen und unerschrockenen Präsidenten, einst Schauspieler und Komiker, war in den vergangenen Wochen so präsent wie zu Beginn des Kriegs. Das renommierte „Time“Magazin kürte ihn zur Person des Jahres; die Online-Filmplattform Netflix schickte Talkshow-König David Letterman nach Kiew, um dort ein Interview mit Selenskij zu führen – in einer U-Bahn-Station im Vollbetrieb. Der Präsident wandte sich darin direkt an die USBevölkerung, mit derselben Forderung, die er am Mittwoch vorbringen wollte: „Waffen, Waffen und mehr Waffen.“
Die mediale US-Offensive der Ukrainer soll ein Zeichen der Geschlossenheit sowohl in Richtung Kreml als auch an die EUHauptstädte schicken. Selenskijs Appell an die US-amerikanische Bevölkerung bei „Letterman“kam nicht ohne Grund: Der Zuspruch für die weitreichende Unterstützung der Ukraine durch D. C. ist in den USA nicht mehr unumstritten. Angesichts hoher Lebenshaltungskosten machten republikanische Abgeordnete vor den Midterms mit dem Versprechen Wahlkampf, die UkraineHilfen zu beschränken.
„Es ist nicht genug“
Der Besuch kommt daher in einem Schlüsselmoment: Diese Woche soll der mehrheitlich demokratische Kongress weitere 42,3 Milliarden Euro für die Ukraine im nächsten Jahr bewilligen, Gelder, die Selenskij auch braucht, um seine eigene Regierung am Laufen zu halten. Im Jänner dann wechselt im Repräsentantenhaus die Führung zu den Republikanern. Selenskij ging es auch darum, sie für seine Sache zu gewinnen: die Abgeordneten. Sie werden künftig über jene Hilfen entscheiden, die es der Ukraine bisher ermöglicht haben, angesichts der russischen Aggression nicht in die Knie gehen zu müssen.
Selenskij, der am Dienstag ins schwer angegriffene Bachmut gereist war, nahm von dort eine Fahne mit den Unterschriften seiner Soldaten mit: „Wir werden sie dem Kongress und dem US-Präsidenten geben, von den Jungs“, sagte er in einer Videobotschaft. „Wir sind dankbar für die Unterstützung. Aber es ist nicht genug.“
Ohne die USA wäre dieser Krieg bisher anders verlaufen. Die Hilfe der Amerikaner hat viele Facetten. Sie reicht von Geld über extrem wichtige Aufklärungsdaten – die Ukrainer waren den Russen oft einen Schritt voraus – bis hin zu schweren Waffen wie den Himars-Mehrfachraketenwerfern. Allein die US-Militärhilfe für die Ukraine beläuft sich heuer auf umgerechnet 21,6 Milliarden Euro.
Und die USA sind bereit, ihre Waffenhilfe qualitativ auf eine neue Stufe zu heben. Sie werden erstmals „Pat riots“a n die Ukraine liefern, wie im Vorfeld von Selenskijs Besuch bestätigt wurde. Das „Patriot“-Flugabwehrsystem zählt zu den modernsten der Welt und hat je nach Modell eine Reichweite von 40 bis 160 Kilometern. Es soll den Ukrainern bei der Abwehr von Putins Raketenterror gegen die zivile Infrastruktur helfen. Wobei die USA zunächst nur eine „Patriot“-Batterie liefern wollen. Berichten zufolge wollte Selenskij seine Forderung nach ATACMS-Raketen erneuern. Damit lassen sich je nach Typ Bodenziele in 160 bis 300 Kilometern Entfernung angreifen – also theoretisch auch weit hinter der Grenze. Wahrscheinlich war ein Deal hier nicht. Die USA scheuten bisher vor der Lieferung reichweitenstarker Waffen zurück, weil sie fürchten, dass der Westen dadurch direkt in den Krieg hineingezogen werden könnte.