Weihnachten unter einem Dach
Türkei. In Alanya leben Russen und Ukrainer zusammen. Das Flüchtlingsschicksal verbindet. Eine Reportage.
Russische und ukrainische Kinder spielen vor der Muttergotteskirche von Pisidien auf einer Gebirgsanhöhe über der türkischen Riviera. Oleander und Bougainvillea blühen im Kirchengarten, über Bananenplantagen geht die Aussicht auf die glitzernde Bucht von Alanya und das Mittelmeer. Die Dorfstraße ist zugeparkt von Autos mit russischen und ukrainischen Kennzeichen, aus den Kirchenfenstern dringt hell der Sprechgesang eines orthodoxen Gottesdienstes. In der Emigration verliere sich die Unterscheidung zwischen Russen und Ukrainern, sagt ein russischer Mann namens Raman, der sich vor der Kirchentür bekreuzigt. „Unsere Politiker sind verrückt, aber zwischen uns gibt es keine Probleme.“Seit sieben Monaten ist der Enddreißiger in Alanya – so wie Tausende Russen und Ukrainer, die seit Kriegsbeginn in die türkische Kleinstadt am Mittelmeer geflohen sind. Sie werden wohl alle noch länger bleiben, meint Raman: „Weihnachten werden wir hier alle zusammen unter einem Dach feiern.“
Plaudernd stehen die Gottesdienstbesucher anschließend im Sonnenschein vor der Kirche zusammen. Larissa, eine Ukrainerin, ist mit ihrer Schwester und einer russischen Bekannten da, die bei ihr im Auto mitfährt. Der 28-jährige Russe Pawel und seine ukrainische Frau Viktoria warten auf Pater Sotirius, den belarussischen Priester der Kirche, um den Taufschein für ihren Sohn Andrej abzuholen. Gerade 14 Monate alt war Andrej, als der Krieg ausbrach und seine Eltern nicht mehr in Moskau bleiben wollten. Über Armenien und Georgien gelangte die Familie nach Alanya. Im Juni haben sie Andrej in dieser Kirche taufen lassen. Hier wollten sie nun bleiben, sagt Pawel – zumindest so lang Putin an der Macht sei.
Wie viele Menschen seit Kriegsbeginn nach Alanya zugezogen sind, können die Behörden nicht sagen; sie kommen mit der Registrierung der Neuankömmlinge kaum nach. Fest steht nur, dass schon bei Kriegsausbruch rund 14.000 Russen und 3000 Ukrainer in Alanya niedergelassen waren. Viele kamen, weil sie die Stadt als Touristen kennengelernt hatten.
Die März-Emigranten
So ging es auch Pawel und Viktoria. Die beiden hatten sich 2015 auf dem Moskauer Flughafen kennengelernt und wollten sich wiedersehen, erzählen sie, doch ihre Eltern wollten einem Besuch im jeweils anderen Land nicht zustimmen, weil die russische Annexion der Krim noch in den Gemütern brannte. So verabredete sich das Pärchen zum Rendezvous in Alanya, das aus beiden Ländern mit Urlaubsfliegern zu erreichen war. Nach der Heirat lebten sie in Moskau, bis der Krieg ausbrach – dann wurden sie zu „März-Emigranten“, wie Pawel betont: Die Abgrenzung zu den „SeptemberEmigranten“, die Russland erst bei der Mobilmachung verließen, wiegt in der Emigration schwerer als der Unterschied zwischen Russen und Ukrainern.
Manche Emigranten haben Alanya aus schlichteren Gründen gewählt. „Ich mag es einfach warm“, sagt Alex, ein Familienvater aus Moskau, der in Shorts und Schlapfen aus einem Laden kommt. Mit seiner Frau und zwei Töchtern hat er in seinem Kleinbus die Fahrt durch Georgien gemacht, dreimal haben sie unterwegs übernachtet. Inzwischen hat sich die Familie eingelebt, die Kinder gehen schon zur Schule – die Kleine in den Kindergarten, die Große auf das „Amerikan Kolej“von Alanya. Dort hadere sie zwar noch mit der englischen Unterrichtssprache, habe aber jede Menge russischsprachige Freunde, erzählt Alex.
Einiges fehle fern der Heimat aber, räumt Alex ein und zeigt auf seine Einkaufstasche. Aus dem „Market 777“kommt er gerade, einem Laden an der Küstenstraße von Alanya, zu dem Russen und Ukrainer aus der ganzen Stadt pilgern. Sauerrahm gibt es hier zu kaufen, abgepackte Blini und gekühlte Portionen von NapoleonTorte. Beliebt in der EmigrantenSzene ist auch das Café Matryoshka auf der Westseite, wo mittags nur mit Wartezeit ein Tisch auf der Straße zu ergattern ist. BorschtschSuppe mit Sauerrahm tragen die russisch sprechenden Kellnerinnen
auf, Pelmeni und Kwas, und die Gäste langen mit Appetit und Heimweh zu.
Abends trifft sich die Emigranten-Szene von Alanya im Lost, einem schicken Restaurant in der Innenstadt mit Glasdach, Lichterketten und funkelnder Bar voller polierter Gläser. Lost in Alanya heißt das Lokal mit vollem Namen, doch die Menschen drinnen haben sich gefunden: Altersdurchschnitt Anfang 30, modisch gekleidet, manche mit Kindern auf dem Schoß, unterhalten sie sich angeregt bei Cocktails und Meeresfrüchten. Auf 80 Prozent ortsansässige Ausländer schätzt Besitzer Oktay sein Publikum, die meisten davon Ukrainer und Russen. Zwist zwischen ihnen habe er noch nie gesehen, sagt er: „Die sind doch alle vor dem Krieg geflohen – das verbindet.“
Konkurrenz um Wohnraum
Von der Wirtschaftskrise in der Türkei schon angezählt, müssen die türkischen Einwohner von Alanya nun mit den relativ wohlhabenden Emigranten um Wohnraum konkurrieren – und viele müssen den Kampf aufgeben. Lehrer und Beamte ersuchen reihenweise um Versetzung aus Alanya, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können.
Freilich sind nicht alle Emigranten so betucht, dass sie sich Penthouse-Wohnungen leisten oder im Lost speisen können. Der 28-jährige Artom, der erst vor einem Monat in Alanya angekommen ist, hat seine Wohnung in Sankt Petersburg vermietet und verkauft jetzt über das Internet türkische Playstation-Spiele nach Russland, um seinen Aufenthalt zu finanzieren. Pawel, der in Russland in der Raketenforschung arbeitete, hat mit Fernkursen umgeschult auf Programmierer und sucht Fernarbeit bei internationalen Firmen.
Um die wachsende orthodoxe Gemeinde von Alanya zu betreuen, hat der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel den belarussischen Pater Sotirius vor einem halben Jahr aus dem Seminar von Sankt Petersburg in die Bergkirche geholt. Zu seinem Gottesdienst kommen Russen und Ukrainer. Am 6. Jänner werden sie gemeinsam Weihnachten feiern, ihre ersten in der Türkei.
Unsere Politiker sind verrückt, aber zwischen uns gibt es keine Probleme.
Raman, russischer Emigrant in Alanya