Warum Wladimir Putin seine traditionellen TV-Auftritte aufgibt
Russland. Der Ukraine-Krieg hat die herkömmliche Kreml-Kommunikation obsolet gemacht. Putin appelliert vorrangig an die Stützen des Systems.
Moskau/Wien. Drei Events galten jahrelang als die Dreifaltigkeit der Kreml-Kommunikation mit dem Volk: Wladimir Putins Direkte Linie, seine Jahrespressekonferenz und die jährliche Botschaft an den Föderationsrat. Es waren Pflichttermine, auf die sich der russische Präsident tagelang akribisch vorbereitete. Nicht nur geistig, sondern auch körperlich: Kolportiert wird, dass Putin am Tag vor den Veranstaltungen keine Flüssigkeit zu sich nahm, um vor Publikum stundenlang auf dem Podium durchzuhalten und sich nicht die Blöße einer Toilettenpause zu geben.
Die inszenierten und orchestrierten Auftritte stehen für die politische Kommunikation in der Putin-Ära, für die Indienstnahme der Medien, insbesondere des Fernsehens, für Putins „Telekratur“. Dialog und Mitsprache imitierend, dienten sie vorrangig dazu, dem TV-Publikum die politischen Botschaften des Kreml zu überbringen.
Im Kriegsjahr 2022 sagte der Kreml ein Format nach dem anderen ab. Das ist höchst ungewöhnlich – und wirft Fragen auf.
Auch Grundsatzrede fällt aus
Der Kreml cancelte eine Veranstaltung nach der anderen. Früh von der Agenda gestrichen wurde die seit 2001 bestehende Direkte Linie, in der Putin den „guten Zaren“mimte: Er hörte sich die Sorgen des Volks am anderen Ende der Leitung an – von fehlender „Gasifizierung“bis zu ausbleibenden Sozialhilfen –, versprach Besserung und stauchte mitunter direkt den zuständigen Gouverneur zusammen.
Unlängst wurde bekannt, dass die Jahrespressekonferenz ausfällt. In der traditionell im Dezember angesetzten Veranstaltung stellte sich der sonst unzugängliche Putin mehrere Stunden lang den (größtenteils abgesprochenen) Fragen in- und ausländischer Journalisten. Erst diese Woche verlautete der Kreml, dass auch die jährliche Botschaft an den Föderationsrat nicht stattfinden wird. In dieser
Grundsatzrede legt der Kreml vor den wichtigsten Staatsbeamten Rechenschaft über seine Arbeit ab. Der Termin ist von der Verfassung vorgeschrieben und der politisch relevanteste der drei Termine.
Hat Wladimir Putin etwa Angst vor öffentlicher Kritik angesichts des mäßig erfolgreichen UkraineFeldzugs, wie das britische Verteidigungsministerium unlängst gemutmaßt hat? Oder gibt es noch andere Gründe für Putins Verschwinden von den TV-Schirmen?
Richtig ist, dass der russische Angriffskrieg alles verändert hat. Das Abspulen des bisherigen Propagandaprogramms scheint in der neuen Realität nicht mehr möglich. Der Krieg überschattet alles und darf doch nicht offiziell den russischen Alltag beeinträchtigen. Tote Soldaten, atomare Bewaffnung, mangelnde Kanalisation – das passt nicht zusammen in eine Sendung. Und für die Grundsatzrede fehlen die nötigen wegweisenden Erfolge.
Zudem hat Russland seit Kriegsbeginn einen autoritären
Sprung gemacht. Die Zeiten, in denen der Kreml mit der Öffentlichkeit in einen (wenn auch hierarchischen) Dialog getreten ist, sind vorbei. Seit Kriegsbeginn sind zudem die meisten Medien, die Putin theoretisch „grillen“könnten, aus Sicherheitsgründen nicht mehr in Russland vertreten. Gleichzeitig würde eine Veranstaltung mit nur Kreml-konformen Journalisten das mäßig spannende Event vollständig zur Farce werden lassen.
Putin spricht von „Krieg“
Auch das für Putins Herrschaft so charakteristische Versprechen von Wohlstand durch autoritäre Führung, von Konsum im Austausch für politische Enthaltsamkeit, ist obsolet geworden. Die Mobilmachung hat Russlands Männer erreicht, alle Lebensbereiche sind dem Krieg untergeordnet, über der Gesellschaft hängt die Zensurglocke. Über Sinn und Unsinn des Angriffskriegs darf nicht diskutiert werden. Wer die „Spezialoperation“infrage stellt, macht sich verdächtig – und strafbar.
Kriegsherr Putin appelliert in diesen Wochen vorrangig an die Uniformierten. Sie sind die Stützen seines Systems, ihre Loyalität braucht er. Längere, im TV übertragene Reden hielt der 70-Jährige vor Sicherheitskräften und Militärs. Er verlieh Orden an Kriegsteilnehmer und sicherte den „Helden“und ihren Familien volle Rückendeckung zu. Den Generälen versprach er unbegrenzte Geldmittel für die Weiterführung des Kriegs. Russland muss siegen, koste es, was es wolle.
Die Normalbürger werden jetzt mit kurzen Clips bedient, die den Kreml-Chef bei Eröffnungen und Empfängen zeigen. Putin monologisiert und schwadroniert. In der jüngsten Unterredung mit Journalisten des Kreml-Pools am Donnerstag sprach er erstmals von einem „Krieg“in der Ukraine. Eigentlich wird diese Wortwahl geahndet. Die Klage eines oppositionellen Abgeordneten aus St. Petersburg dürfte trotzdem abgewiesen werden. Der Oberbefehlshaber ist unantastbar.