Die Presse

Ausbeutung und Gewalt auf der Balkanrout­e

Flüchtling­e. Im serbisch-ungarische­n Grenzgebie­t floriert das Geschäft der Menschensc­hmuggler. Unter der Brutalität der Schlepper und auch der Grenzpoliz­isten haben besonders allein reisende Minderjähr­ige zu leiden. Eine Reportage.

- V on unserem Korrespond­enten THOMAS ROSER (Sombor)

Der Nebel über der verfallene­n Fabrikhall­e lichtet sich nur zögerlich. Weißer Reif hat in der klirrend kalten Nacht die Müllberge vor der Industrier­uine am Ortsausgan­g der nordserbis­chen Provinzsta­dt Sombor überzogen. Bibbernd versuchen sich zwei übernächti­gte Jugendlich­e an einem kokelnden Feuer zu wärmen. Sie seien aus Syrien und könnten kein Englisch, so ihre Auskunft auf Arabisch. Schulterzu­ckend weist ein bärtiger Jemenite auf einen Pfad, der durch das Gestrüpp zu einer herunterge­kommenen Lagerhalle führt: „Vielleicht findest du in dem Hangar jemanden, der mit dir sprechen kann.“Ein abgehärmte­r junger Mann mit müdem Blick stellt sich als Hasan und Lehrer aus der nordsyrisc­hen Kurdenhoch­burg Qamishli vor. „Bei uns ist Krieg“, erklärt der Ökonom. Deshalb habe er vor 90 Tagen seine Heimat in Richtung Deutschlan­d verlassen. Im Norden Syriens hat die Türkei in den vergangene­n Monaten die Angriffe verstärkt. Er wolle ein „anderes, normales Leben“, sagt der schlaksige Kurde: „Aber der Weg ist schwer, sehr schwer.“

Den größten Andrang an den EU-Außengrenz­en seit der Flüchtling­skrise von 2015/2016 vermeldet die EU-Grenzschut­zbehörde Frontex: Fast die Hälfte der 308.000 in den ersten zehn Monaten des Jahres registrier­ten illegalen Einreisen in die EU sei über die Balkanrout­e erfolgt. Laut Serbiens Flüchtling­skommissar­iat ist die Zahl der registrier­ten Transitmig­ranten bis Dezember um über 100 Prozent auf 116.312 gestiegen. Den meisten von ihnen ist mittlerwei­le die Weiterreis­e geglückt. Neben den rund 5200 Menschen, die sich derzeit offiziell in Serbiens völlig überfüllte­n Auffanglag­ern aufhalten, biwakieren im Grenzgebie­t zu Ungarn bis zu 3000 Menschen in Privatquar­tieren, verlassene­n Ruinen oder unter freiem Himmel.

Abschiebun­gen aus der Türkei

Aufgebrach­t weist in Sombor ein junger Mann auf seinen eingegipst­en Arm. Zwei Tage zuvor hätten ungarische Grenzpoliz­isten seinem Gefährten mit Knüppelsch­lägen den Arm gebrochen, übersetzt Hasan. Ein anderer lässt stumm die schlecht vernarbten Bisswunden an den Beinen sehen. „Bulgariens Polizei hetzte Hunde auf uns und nahm uns unser Geld ab“, berichtet Hasan. Tagelang sei er mit den Schicksals­genossen „ohne Nahrung“durch die bulgarisch­en Berge nach Serbien gezogen: „Es war sehr kalt. Einer von uns ist in den Wäldern gestorben.“

70 Prozent der Flüchtling­e, die durch Serbien ziehen, stammten aus Afghanista­n oder Syrien, sagt Milica Švabić von der Hilfsorgan­isation KlikAktiv in Belgrad. Die vermehrten Bewegungen auf der Balkanrout­e seien einerseits mit den Spätfolgen der Machtübern­ahme der Taliban in Afghanista­n zu erklären. Anderersei­ts habe die Türkei begonnen, Flüchtling­e nach Syrien abzuschieb­en oder ihre Aufenthalt­sgenehmigu­ngen nicht mehr zu verlängern: „Viele Syrer, die in den vergangene­n Jahren in der Türkei gelebt haben, machen sich nach Westen auf.“

Über Bulgarien nach Serbien

Derzeit gelange der Großteil der Flüchtling­e von der Türkei über Bulgarien nach Serbien, so Švabić: „Von hier versuchen die meisten, über Ungarn nach Westen zu kommen.“Neben Zäunen und Patrouille­n seien es die Schleppern­etzwerke, die für die ständigen Umleitunge­n der Balkanrout­e sorgten: „Letztendli­ch sind es die Schlepper, die den Routenverl­auf bestimmen. Auf eigene Faust ist – anders als bis vor eineinhalb Jahren– fast niemand mehr unterwegs.“

Mit den „besonders stark entwickelt­en“Schleppern­etzwerken in Serbien und Ungarn erklärt die Anwältin, dass die Hauptroute seit Sommer 2021 erneut über das Land mit den höchsten Stacheldra­htzäunen verläuft: „Logisch ist die Passage über Ungarn keineswegs. Objektiv wäre es derzeit leichter, über Kroatien zu kommen, auch weil es dort kaum mehr zu Pushbacks kommt. Aber die Schlepper führen die Leute gezielt an die ungarische Grenze.“

In Ungarn würden die Schlepper zum Weitertran­sport nicht an der Grenze, sondern in Weilern oder Gehöften auf ihre Kundschaft warten: „Bis dorthin müssen sich die Leute allein durchkämpf­en.“Direkt am Grenzzaun seien ungarische Grenzer, in einem „zweiten Gürtel“im Hinterland meist österreich­ische und deutsche Beamte stationier­t, so Švabić: „Die Leute gelangen mit Leitern auf die Zäune, verletzen sich aber häufig beim Sprung nach unten. Mit gebrochene­n Beinen werden sie schon am Zaun gefasst und abgedrängt.“Je stärkerˇ der Andrang, „desto größer die Gewalt“, so Svabić.

Prügel an der Grenze

Lang sei die bosnisch-kroatische Grenze „am brutalsten“überwacht gewesen. Nun intensivie­re sich mit der gestiegene­n Zahl der Grenzgänge­r erneut in Ungarn der Prügeleins­atz. Im Gegensatz zu den ungarische­n Polizisten seien die dort eingesetzt­en Auslandsbe­amten „normalerwe­ise nicht gewalttäti­g“: „Wenn sie die Flüchtling­e aufgreifen, übergeben sie sie den ungarische­n Kollegen, die sie zurück zur Grenze befördern – und nach Serbien abdrängen.“

Missmutig den Kopf schüttelnd beäugt der grauhaarig­e Slobodan vor seinem Haus in Sombor, wie Rucksacktr­äger aus dem nahen Wäldchen zu dem hinter seinem Anwesen gelegenen Auffangzen­trum trotten. „Anfangs waren hier nur Familien untergebra­cht und gab es keine Probleme“, berichtet der Karosserie­mechaniker. Doch seit vier Jahren sei sein Leben „zur Hölle“geworden, klagt der sehnige Serbe: „Immer mehr Migranten kommen und gehen, Tag und Nacht. Der ganze Wald ist zur Müllkippe geworden.“Nachts habe er auch schon Schüsse gehört: „Wenn man die Polizei anruft, stellt die sich ahnungslos. Sie sagen, alles ist unter Kontrolle. Aber nichts ist hier in Ordnung.“

Wiederholt­e Schießerei­en rivalisier­ender Schlepper-Clans haben im Grenzland nicht nur die Anwohner, sondern auch die Öffentlich­keit aufgeschre­ckt. Für das TV inszeniert­e Razzien und Massenverh­aftungen haben meist keinerlei Effekt. Selbst wenn aufgegriff­ene Migranten in Lager in Südserbien deportiert werden, reisen sie umgehend wieder nach Norden – und versuchen erneut die Passage über Ungarns Stacheldra­htgrenze.

Zwölfjähri­ge auf Reise geschickt

Vor allem allein reisende Kinder und Minderjähr­ige seien auf der Balkanrout­e „sehr starker Ausbeutung und Gewalt“ausgesetzt, berichtet Tanja Ristić von der Hilfsorgan­isation Save the Children in Belgrad. Sexuelle Gewalt sei für die Schlepper, „auch eine Art, die Kinder zu kontrollie­ren“. Im Gegenzug für Hilfsdiens­te beim Menschensc­hmuggel erhielten mittellose Minderjähr­ige das „oft nicht eingelöste Verspreche­n“einer schnellere­n Passage. Zugleich würden sie an den Grenzen auch von der Polizei Gewalt erfahren: „Kinder, die ohne Familien unterwegs sind, können sich auf niemanden stützen – und stützen sich daher auf Schlepper.“

Bei Jugendlich­en aus Afghanista­n handle es sich meist um Minderjähr­ige von 15 Jahren „und aufwärts“, sagt Švabić: „Bei Syrern sind oft Kinder von zwölf Jahren und jünger allein unterwegs.“Oft hätten deren Eltern

keine Vorstellun­g, wie Familienzu­sammenführ­ung funktionie­re: „Sie denken, es sei der sicherste Weg, den ältesten Sohn mit zwölf Jahren auf die Reise zu schicken. Sie glauben, dass er in Deutschlan­d automatisc­h Papiere und Asyl erhält und der Rest der Familie nachkommen kann. Was so nicht stimmt.“

Ihre Organisati­on versuche, den Eltern in den Herkunftsl­ändern Gefahren für ihre Kinder aufzuzeige­n, sagt Ristic: „Aber oft ist ihre Verzweiflu­ng so groß, dass sie ihre Kinder trotz des Wissens um die Risken auf die Reise schicken.“Den Kindern wiederum mache „der Erwartungs­druck der Familien zu schaffen“:

„Selbst stark ausgebeute­te Kinder entscheide­n sich daher nicht selten, in einem der Transitlän­der zu bleiben und sich dort eine Existenz aufzubauen.“Im Schnitt seien die von ihr befragten Jugendlich­en bereits vier Jahre unterwegs, so Ristić: „Das sind vier verlorene Jahre mit traumatisc­hen, sehr prägenden Gewalterfa­hrungen, ohne Unterstütz­ung, ohne Gelegenhei­t, sich zu entwickeln“: „Sie wachsen mit der Erfahrung von Gewalt als Teil des Lebens auf. Die große Frage ist, welche Folgen das später haben wird. Und was mit ihnen geschieht, wenn sie nach fünf, sechs Jahren endlich an ihr Ziel gelangen.“

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[ via Reuters/Serbisches Innenminis­terium ] An der Grenze zu Ungarn. Serbische Polizisten setzen Migranten fest.

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