„Ich habe hier keine Zukunft mehr“
Afghanistan. Gegen das Dekret der Taliban, dass Frauen nicht mehr studieren dürfen, regt sich Widerstand. Eine der ausgesperrten Studentinnen schildert der „Presse“ihre Verzweiflung.
Wien/Kabul. Als Sumeyye erfuhr, dass sie vom nächsten Tag an nicht mehr die Vorlesungen ihrer Universität besuchen dürfe, wusste sie: Das Gerücht, das bereits wochenlang kursiert ist, hat sich bewahrheitet. Die militant-islamistischen Taliban, seit August 2021 wieder Machthaber Afghanistans, setzten in dieser Woche ein landesweites Dekret durch, das allen Afghaninnen fortan den Gang zur Universität untersagt. Sumeyye aus der nördlichen Stadt Mazar-e Sharif hatte noch das letzte Semester ihres Medizinstudiums vor sich. Nun muss sie zu Hause bleiben.
„Ich wünschte, ich wäre hier nicht geboren worden“, sagt die 23-Jährige während eines Gesprächs mit der „Presse“. Für sie ist klar: Das Verbot ist dauerhaft. Die „neuen“Taliban seien weiterhin die alten, und diese pflegen abermals jene frauenfeindliche Politik, für die sie bereits in den 1990erJahren während ihrer ersten Regimezeit bekannt waren. „Ärztin zu werden war mein Traum. Doch ich habe hier keine Zukunft mehr“, meint Sumeyye.
„Den Fanatikern ausgeliefert“
Ähnlich sehen das auch die Männer in ihrer Familie. Ihr Vater, ein streng praktizierender Muslim, der in den 1980er-Jahren aufseiten der islamistischen Mudjaheddin gegen die Rote Armee kämpfte und heute selbst Arzt ist, ist seit der Entscheidung außer sich: „Wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, dass wir ein schlechtes Image haben, wenn wir von solchen Männern regiert werden. Die Entscheidung der Taliban hat keinerlei islamische Grundlage, sondern ist lediglich misogyner und totalitärer Natur“, meint er.
Auch Ahmad, Sumeyyes Bruder, ist aufgrund der jüngsten Entscheidung der Taliban deprimiert. „Wir sind diesen Fanatikern ausgeliefert und können nichts machen. Das Leben in Afghanistan ist kaum noch lebenswert“, sagt er.
Die Taliban selbst sehen das anders. In einem Interview mit dem afghanischen Staatsfernsehen, das seit der Rückkehr der Taliban von ihnen selbst geführt wird, behauptete Neda Mohammed Nadeem, der gegenwärtige Minister für höhere Bildung des TalibanRegimes, dass die „islamischen Grundlagen“für die Bildung von
Frauen geschaffen werden müssten. So werde gegenwärtig etwa nicht die Geschlechtertrennung eingehalten, und Frauen würden sich auf dem Campus allein, sprich, „ohne männliche Begleitung“bewegen.
Ähnliche Gründe nannten die Taliban auch im Frühling im Kontext der Schließung von Mädchenschulen. Diese Maßnahme wurde nun sogar zusätzlich ausgeweitet. Auch die damalige Entscheidung zur Schließung der Mädchenschulen sorgte für viel Kritik. Gleichzeitig hofften viele Menschen, dass die Schulen doch irgendwann geöffnet und sich dadurch die Lage verbessern würde.
Steigende Kindersterblichkeit
Nun fand allerdings ein weiterer Rückschritt statt, der verheerende Folgen haben wird. „Die Zahl der Ärztinnen wird in den nächsten Jahren zurückgehen. Die Kindersterblichkeitsrate wird steigen. Das müssten eigentlich auch die Taliban wissen“, meint Sumeyyes Bruder Ahmad, der selbst Ingenieurswesen studiert hat. Seit dem Abzug der Nato-Truppen und dem Ende der afghanischen Republik ist er arbeitslos. Neben den vorhersehbaren Folgen im Gesundheitssystem kommen psychische Krankheiten wie Depressionen sowie eine erhöhte Suizidrate hinzu.
Viele Afghanen wollen sich deshalb mit den Entscheidungen
der Taliban nicht abfinden. „Die genannten Gründe sind nur Vorwände. Sie wollen Mädchen aus dem Bildungssystem verbannen“, meint etwa Bezhan Karimi, ein Student an der Universität von Kabul. Er beschreibt, wie bewaffnete Taliban-Kämpfer Studentinnen den Zugang zu den Hörsälen verwehrt hätten. „In einigen Fällen wendeten sie auch Gewalt gegen die Mädchen an“, schildert Karimi. Die Fortführung der frauenfeindlichen Politik sei vorhersehbar gewesen. Seit ihrer Rückkehr hätten die Taliban an Karimis Universität permanent nach Vorwänden gesucht, um den Frauen den Besuch zu verweigern, sagt er.
Aufgrund des Universitätsverbots kommt es landesweit zu Protesten. In der östlichen Provinz Nangarhar brachen männliche Studierende demonstrativ ihre Prüfungen ab, um gemeinsam mit den ausgeschlossenen Frauen zu demonstrieren. Ähnliche Szenen spielten sich auch in anderen Landesteilen ab. Hinzu kommen die Kündigungen von mehreren Professoren und Dozenten. Mittlerweile sollen landesweit mindestens 60 Lehrkräfte aus Protest den Dienst quittiert haben.
Selbst unter den Taliban, die eine heterogene Gruppierung sind, gibt es Kritik. So meinte etwa Abdul
Baqi Haqqani, dass moderne Bildungsmöglichkeiten für alle Menschen dringend notwendig seien.
Vor einigen Monaten leitete Haqqani noch das Ministerium für höhere Bildung. Einige Beobachter gehen davon aus, dass er seinen Posten verloren hat, weil er sich gegen das Bildungsverbot für Frauen und Mädchen ausgesprochen hat.
Mächtiger Hardliner
Die jüngste Entscheidung macht allerdings deutlich, dass die Hierarchie innerhalb der Taliban weiterhin besteht und sich extreme Kräfte durchsetzen. Dies betrifft vor allem die Taliban-Führung im südlichen Kandahar, wo auch der oberste Führer der Gruppierung, Haibatullah Akhundzada, residiert. Akhundzada gilt als absoluter Hardliner, der mit jenen moderat wirkenden Taliban, die im August 2021 von den internationalen Medien hofiert wurden, nichts gemein hat. „Die Macht liegt bei ihm, und niemand traut sich, ihn zu hinterfragen“, meinte ein TalibanOffizieller, der anonym bleiben will, gegenüber der „Presse“. Auch hochrangige Talibanmitglieder würden ihre Führer aus Angst vor einer Spaltung der Gruppierung nicht öffentlich kritisieren.
Am Donnerstag demonstrierten Dutzende Frauen in Kabul gegen die Entscheidung der Taliban, Frauen von den Unis zu verbannen. Berichten zufolge wurden mehrere Demonstrantinnen sowie Journalisten vorübergehend von den Extremisten festgenommen.