Wie aus der Religion Politik wurde
Ideologie. Die Kirche hat nicht nur die Entstehung christdemokratischer Parteien befördert, das Christentum hat auch linke Bewegungen beeinflusst. Bis hin zum heutigen Parteiensystem.
Es ist eine der zentralen Thesen des deutschen Historikers Heinrich August Winkler für den Aufstieg der westlichen Zivilisation ab dem Mittelalter: Die Macht war stets geteilt, zwischen dem Kaiser auf der einen Seite und dem Papst auf der anderen Seite. Eine frühe Form von Checks and Balances sozusagen.
Ein Kulminationspunkt war dabei der sogenannte Investiturstreit, da musste der Kaiser (Heinrich IV.) anerkennen, dass der Papst (Gregor VII.) machtpolitisch am längeren Ast saß. Dem Kaiser drohte wegen der Exkommunikation aus Rom der Machtverlust in seinen eigenen Landen.
Diesen Faden nahm vor einigen Jahren der britische Historiker und Autor Tom Holland auf. Er machte Papst Gregor VII. sogar zu einem Revolutionär – von oben. „Gregor fühlte sich zu einem mächtigen Reinigungswerk berufen“, schrieb Holland in seinem Buch „Herrschaft“. Oben stand der Papst, der den „kleinen Mann“, sofern moralisch einwandfrei, vor den „Großen“schützte.
In Bologna entstand eine Universität, auf der die künftige päpstliche Elite ausgebildet wurde. Dort wurde auch das Verhältnis von Arm und Reich neu definiert. Bis dahin galt der Grundsatz, dass Reiche den Armen Almosen zu geben hätten, nun galt das Prinzip, dass Arme ein Anrecht darauf hatten.
In der Kirche gab es neben bewahrenden, konservativen Kräften, auch immer wieder (sozial-)revolutionäre, also „linke“. Die Waldenser, die Albigenser, die Taboriten (der radikale Flügel der Hussiten), bei denen etwa Privateigentum verboten war, mit Abstrichen sogar die Franziskaner (die aber dem Papst verbunden blieben). Auch Martin Luthers Protestanten könnte man, ebenso mit Abstrichen, hier einreihen.
Das reicht herauf bis zum Vorabend der Russischen Revolution. Jene Demonstration im Jänner 1905 gegen den reaktionären Zaren Nikolaus II., die als „Petersburger Blutsonntag“in die Geschichte eingehen sollte, wurde vom orthodoxen Priester Georgi Gapon angeführt. Schon bei der Französischen Revolution hatten Geistliche eine Rolle gespielt, wie der Abbé Emmanuel Sieyès, der zu einem Chefideologen der Revolution wurde. Wobei diese „linken“Kräfte im Lauf der Zeit dann oft selbst zu beharrenden, konservativen wurden, gegen die dann wiederum neu entstandene Erneuerungsbewegungen anrannten.
Karl Marx sprach zwar von der Religion als „Opium des Volkes“, indirekt wurden aber eben auch linke Bewegungen und Parteien von der christlichen Religion beeinflusst, nicht zuletzt von der Figur des Religionsstifters Jesus von Nazareth, der sich selbstlos der Armen und Entrechteten annahm. Das frühe Christentum als emanzipatorische, progressive Bewegung sozusagen.
Der dritte Weg des „Arbeiterpapsts“
Eine direkte Linie gab es zu den Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen christlichsozialen Parteien und Bewegungen. Diese wollten ein Gegengewicht zum damals dominierenden Liberalismus und zum aufstrebenden Sozialismus sein und beriefen sich auf die Enzyklika „Rerum novarum“von Papst Leo XIII., dem „Arbeiterpapst“. Der Kern von dessen Botschaft war gewissermaßen ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus: Die Arbeiter sollten ihren gerechten Lohn bekommen, nicht ausgenützt werden, anständig leben können, dafür aber die marktwirtschaftliche Ordnung mitsamt dem Privateigentum nicht infrage stellen. Und der Staat sollte sozialpolitisch durchaus eingreifen.
Die Philosophie des Christentums hat jedoch auch zur Ausbildung des Kapitalismus beigetragen – zumindest wenn es nach dem Soziologen Max Weber geht. In seiner „Protestantischen Ethik“machte er vor allem den Calvinismus dafür verantwortlich.
Der Calvinismus hat eine paradoxe Situation geschaffen: In diesem ist von Gott vorbestimmt, ob man arm oder reich ist. Aber indem sich die Menschen besonders anstrengen, wollen sie sich vergewissern, dass sie zu den von Gott „Auserwählten“gehören. Dieser Eifer im Beruf, kombiniert mit protestantischer Bescheidenheit in der persönlichen Lebensführung führte zur Ansammlung von Kapital – der Kapitalismus war geboren.
Die woken Strenggläubigen
Tom Hollands zentrale These ist: Die heutige (politische) Gesellschaft ist, auch wenn ihr das gar nicht mehr bewusst ist, ein Produkt ihrer religiösen Vorgeschichte und ohne diese so nicht denkbar. Und er schlägt dabei auch eine Brücke zur aktuellen WokeBewegung. Diese erinnert in ihrer Rigidität, in ihrer Unerbittlichkeit im Kampf für das (vermeintlich) Gute mitunter auch an die religiösen Eiferer von gestern.