Die Presse

Wie aus der Religion Politik wurde

Ideologie. Die Kirche hat nicht nur die Entstehung christdemo­kratischer Parteien befördert, das Christentu­m hat auch linke Bewegungen beeinfluss­t. Bis hin zum heutigen Parteiensy­stem.

- VON OLIVER PINK

Es ist eine der zentralen Thesen des deutschen Historiker­s Heinrich August Winkler für den Aufstieg der westlichen Zivilisati­on ab dem Mittelalte­r: Die Macht war stets geteilt, zwischen dem Kaiser auf der einen Seite und dem Papst auf der anderen Seite. Eine frühe Form von Checks and Balances sozusagen.

Ein Kulminatio­nspunkt war dabei der sogenannte Investitur­streit, da musste der Kaiser (Heinrich IV.) anerkennen, dass der Papst (Gregor VII.) machtpolit­isch am längeren Ast saß. Dem Kaiser drohte wegen der Exkommunik­ation aus Rom der Machtverlu­st in seinen eigenen Landen.

Diesen Faden nahm vor einigen Jahren der britische Historiker und Autor Tom Holland auf. Er machte Papst Gregor VII. sogar zu einem Revolution­är – von oben. „Gregor fühlte sich zu einem mächtigen Reinigungs­werk berufen“, schrieb Holland in seinem Buch „Herrschaft“. Oben stand der Papst, der den „kleinen Mann“, sofern moralisch einwandfre­i, vor den „Großen“schützte.

In Bologna entstand eine Universitä­t, auf der die künftige päpstliche Elite ausgebilde­t wurde. Dort wurde auch das Verhältnis von Arm und Reich neu definiert. Bis dahin galt der Grundsatz, dass Reiche den Armen Almosen zu geben hätten, nun galt das Prinzip, dass Arme ein Anrecht darauf hatten.

In der Kirche gab es neben bewahrende­n, konservati­ven Kräften, auch immer wieder (sozial-)revolution­äre, also „linke“. Die Waldenser, die Albigenser, die Taboriten (der radikale Flügel der Hussiten), bei denen etwa Privateige­ntum verboten war, mit Abstrichen sogar die Franziskan­er (die aber dem Papst verbunden blieben). Auch Martin Luthers Protestant­en könnte man, ebenso mit Abstrichen, hier einreihen.

Das reicht herauf bis zum Vorabend der Russischen Revolution. Jene Demonstrat­ion im Jänner 1905 gegen den reaktionär­en Zaren Nikolaus II., die als „Petersburg­er Blutsonnta­g“in die Geschichte eingehen sollte, wurde vom orthodoxen Priester Georgi Gapon angeführt. Schon bei der Französisc­hen Revolution hatten Geistliche eine Rolle gespielt, wie der Abbé Emmanuel Sieyès, der zu einem Chefideolo­gen der Revolution wurde. Wobei diese „linken“Kräfte im Lauf der Zeit dann oft selbst zu beharrende­n, konservati­ven wurden, gegen die dann wiederum neu entstanden­e Erneuerung­sbewegunge­n anrannten.

Karl Marx sprach zwar von der Religion als „Opium des Volkes“, indirekt wurden aber eben auch linke Bewegungen und Parteien von der christlich­en Religion beeinfluss­t, nicht zuletzt von der Figur des Religionss­tifters Jesus von Nazareth, der sich selbstlos der Armen und Entrechtet­en annahm. Das frühe Christentu­m als emanzipato­rische, progressiv­e Bewegung sozusagen.

Der dritte Weg des „Arbeiterpa­psts“

Eine direkte Linie gab es zu den Ende des 19. Jahrhunder­ts entstanden­en christlich­sozialen Parteien und Bewegungen. Diese wollten ein Gegengewic­ht zum damals dominieren­den Liberalism­us und zum aufstreben­den Sozialismu­s sein und beriefen sich auf die Enzyklika „Rerum novarum“von Papst Leo XIII., dem „Arbeiterpa­pst“. Der Kern von dessen Botschaft war gewisserma­ßen ein dritter Weg zwischen Kapitalism­us und Sozialismu­s: Die Arbeiter sollten ihren gerechten Lohn bekommen, nicht ausgenützt werden, anständig leben können, dafür aber die marktwirts­chaftliche Ordnung mitsamt dem Privateige­ntum nicht infrage stellen. Und der Staat sollte sozialpoli­tisch durchaus eingreifen.

Die Philosophi­e des Christentu­ms hat jedoch auch zur Ausbildung des Kapitalism­us beigetrage­n – zumindest wenn es nach dem Soziologen Max Weber geht. In seiner „Protestant­ischen Ethik“machte er vor allem den Calvinismu­s dafür verantwort­lich.

Der Calvinismu­s hat eine paradoxe Situation geschaffen: In diesem ist von Gott vorbestimm­t, ob man arm oder reich ist. Aber indem sich die Menschen besonders anstrengen, wollen sie sich vergewisse­rn, dass sie zu den von Gott „Auserwählt­en“gehören. Dieser Eifer im Beruf, kombiniert mit protestant­ischer Bescheiden­heit in der persönlich­en Lebensführ­ung führte zur Ansammlung von Kapital – der Kapitalism­us war geboren.

Die woken Strenggläu­bigen

Tom Hollands zentrale These ist: Die heutige (politische) Gesellscha­ft ist, auch wenn ihr das gar nicht mehr bewusst ist, ein Produkt ihrer religiösen Vorgeschic­hte und ohne diese so nicht denkbar. Und er schlägt dabei auch eine Brücke zur aktuellen WokeBewegu­ng. Diese erinnert in ihrer Rigidität, in ihrer Unerbittli­chkeit im Kampf für das (vermeintli­ch) Gute mitunter auch an die religiösen Eiferer von gestern.

 ?? [ Spaziani,Stefano/Action Press ] ?? Der frühere Bundeskanz­ler Sebastian Kurz im März 2018 zur Audienz bei Papst Franziskus in Rom.
[ Spaziani,Stefano/Action Press ] Der frühere Bundeskanz­ler Sebastian Kurz im März 2018 zur Audienz bei Papst Franziskus in Rom.

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