„Wer nichts hat, spürt auch die Inflation nicht“
Die ostungarische Gemeinde Tiszabö gilt als eines der ärmsten Dörfer des Landes. Hier leben ausschließlich Roma. Die Zivilorganisation Spendentaxi versucht, die Menschen zumindest mit dem Allernötigsten zu versorgen.
In Ungarn leben rund eine Million Menschen in tiefster Armut – wie in der Ortschaft Tiszabö im Osten des Landes. Die Zivilorganisation Spendentaxi hat sich zur Aufgabe gemacht, die Not der ärmsten Menschen in Ungarn zu lindern.
Nicht einmal 400 Kilometer trennen Wien von der „Dritten Welt“. Durchstreift der Besucher die 2000-Seelen-Gemeinde Tiszabö, die 120 Kilometer südöstlich von Budapest liegt, offenbart sich ihm eine Realität, die von der Wirklichkeit in Österreich nicht ferner sein könnte. Hier hat sich auf Schritt und Tritt das Elend eingenistet – und das nachhaltig.
Tiszabö gilt als eine der ärmsten Gemeinden des Landes. Es ist ein Ort, in dem nur Roma leben. Und diese fristen schon seit jeher ein jämmerliches Dasein am Rand der Gesellschaft – ausgegrenzt, arbeitslos, ohne Perspektive. Mit anderen Worten: Tiszabö steht als Synonym für eine Armutsfalle, aus der es für die Bewohner kaum ein Entrinnen gibt. Die Hoffnungslosigkeit wird hier von Generation zu Generation weitergegeben.
Auf dem Schulhof der Volksschule in Tiszabö ist es an diesem Dezembertag klirrend kalt. Die rund 350 Schüler der Schule sind ausnahmslos Roma. Wie Kriszta, die junge Schulpsychologin, erzählt, kommen sie bereits „mit großen Defiziten“hier an. Noch mit sechs Jahren hätten viele erhebliche Sprachprobleme. „Wie soll man ihnen da das Lesen und Schreiben beibringen?“
Viele Schüler schaffen es denn auch nicht, dieses Handicap bis zum Schulabgang abzulegen, so Kriszta. Die wenigsten vermögen die Schule abzuschließen. Gelinge es doch jemandem, die Volksschule zu absolvieren (in Ungarn dauert sie regulär acht Jahre), drohe spätestens in einer weiterführenden Schule das Scheitern, weiß Kriszta. Die spätere Arbeitslosigkeit
sei also schon in der Schulzeit programmiert. Hinzu kämen die „gewohnten Probleme“wie Alkoholismus, Kriminalität und häusliche Gewalt. „Viele Kinder“, so die Schulpsychologin, „werden von ihren Eltern regelmäßig geschlagen, nicht wenige müssen wegen chronischen Geldmangels in der Familie sogar hungern.“
Illegales Abholzen
Laut Kriszta kommt es häufig vor, dass Schülerinnen mit 14, 15 Jahren schwanger werden. Um die Familienbeihilfe in Höhe von 12.200 Forint (etwa 30 Euro) zu bekommen, sagt sie. Prostitution in diesem Alter sei auch keine Seltenheit. „Wir haben ein vierzehnjähriges Mädchen an der Schule, das schon mit zwölf Jahren auf den Strich ging“, erzählt sie. Auch Prügeleien stünden in der Schule auf der Tagesordnung. Allein in den letzten drei Tagen seien ein Jochbein und ein Arm gebrochen worden, erzählt sie. Erklärend fügt sie an: Grund für die Schlägereien sei die „völlige Verlorenheit“der Kinder.
„Das triste Leben frustriert sie“, was sich unweigerlich in Gewalt entlade.
Ob die Kinder inmitten dieser Armut überhaupt Berufswünsche hätten? Prompt ergreift der zwölfjährige András, der mit anderen Kindern interessiert zugehört hat, das Wort: „Polizist wäre toll, dann sperre ich nämlich die Leute ein, die klauen.“„Und was klauen sie?“, fragt Kriszta. „Na Holz im Wald“, lautet seine Antwort. „Und du klaust kein Holz im Wald, András?“„Doch. Deshalb werde ich mich selbst einsperren.“Seine Worte sorgen bei den anderen Kindern für lautes Gelächter.
In den umliegenden Wäldern heulen Motorsägen auf. Dorfbewohner rollen auf Fahrrädern heran. Äxte und Sägen sind auf Gepäckträger gezurrt. Am Waldrand packen Männer Baumstämme und Äste auf einen Anhänger. Sogar am helllichten Tag wird hier seelenruhig abgeholzt. Angesichts der Kostenexplosionen bei Strom und Gas wird der Baumschlag von den offiziellen Stellen toleriert. Die
Folge: Vom ehemaligen Baumbestand sind auf einer riesigen Fläche nur noch Stümpfe geblieben. Die Szenerie verströmt Endzeitstimmung.
Wer kein Holz aus dem Wald holt, heizt seinen Ofen mit Müll ein. Ein beliebter Brennstoff sind alte PET-Flaschen, die mit Stofffetzen gefüllt sind. Im Vergleich zu herkömmlichem Plastikmüll brennen sie länger, was bei den stetig kälter werdenden Temperaturen ins Gewicht fällt. Nachts ist die Ortschaft vom beißenden Gestank verbrannten Plastiks erfüllt.
Spendentaxi hilft den Armen
Tamás Horn, seine sechs Mitarbeiter und Dutzende ehrenamtliche Helfer bei der Budapester Zivilorganisation Spendentaxi unternehmen seit Jahren große Anstrengungen, um den Bedürftigsten im Land unter die Arme zu greifen. In Ungarn leben offiziell rund zwei Millionen Menschen in Armut, eine Million in tiefstem Elend. Dieser Tage, wo die Teuerung von Lebensmitteln bei 40 Prozent und drüber liegt, haben es diese Menschen besonders schwer. Sie darben aber auch, weil die Regierung von Viktor Orbán Sozialleistungen seit Jahren nicht angehoben hat.
Vor diesem Hintergrund hat die Organisation Spendentaxi sich zur Aufgabe gemacht, in Budapest Spenden zu sammeln und diese zu Orten wie Tiszabö zu bringen. Spendentaxi hat bereits mehr als hundert rückständige Gemeinden in Ungarn mit dem Allernötigsten versorgt, erzählt Gründer Tamás Horn der „Presse“. Was das sei? Am ehesten Gewand, Spielzeug sowie Haushalts- und Küchengeräte. Aber auch Betten und warme Bettwäsche. Warum das? Weil viele Häuser in den ärmsten Gemeinden keine Fenster und Türen hätten. Deshalb sei es im Winter auch drinnen bitterkalt.
Auf die Frage, wie die Ärmsten inmitten der entfesselten Inflation über die Runden kämen, winkt Tamás Horn ab: „Wer von Grund auf nichts hat, spürt auch die Inflation nicht.“
Viele Kinder werden von ihren Eltern regelmäßig geschlagen, nicht wenige müssen sogar hungern.
Kriszta Schulpsychologin in Tiszabö