Was es mit diesen seltsamen Engeln auf sich hat
Theologie. Sie sind körperlos, aber sichtbar, es umstrahlt sie der Glanz des Himmels, und doch machen sie Angst: Im Essay „Angels and Saints“geht Eliot Weinberger den obskuren Lichtgestalten mit nüchterner Poesie auf den Grund.
Wie sehen Engel aus? Fragt nach beim einfachen Volk, schlagt nach bei Lukas: Sie zeigen sich Hirten, die unrasiert und ungewaschen Nachtwache halten, mit ihren Sackpfeifen, Trinkflaschen und Hunden. „Da trat der Engel des Herrn zu ihnen“: Was sahen diese schlichten Gemüter? Warum „fürchteten sie sich sehr“, wo sie doch „der Glanz des Herrn umstrahlte“? Noch Rilke, fürwahr kein schlichtes Gemüt, hat Angst davor, dass ihn ein Engel ans Herz nimmt: „Ich verginge vor seinem stärkeren Dasein.“Denn „das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen“.
Über „der Engel Ordnungen“, mit denen Rilkes „Duineser Elegien“anheben, haben vor allem Protestanten gelästert. PseudoDionysius hieß der frühchristliche Autor, der diese seltsame Hierarchie aufstellte. Bei ihm tummeln sich, zwischen den Seraphim mit sechs Flügeln und den gewöhnlichen „Angeles“mit deren zwei, auch noch Mächte, Gewalten, Herrschaften und Throne. Wie will er dieses „Sammelsurium“beweisen, fragte Luther: „Ist das nicht alles seine eigene Fantasie und ganz wie ein Traum?“Ist es wohl. Aber eben weil diese Boten Gottes, als Mittler zwischen Himmel und Erde, unsere Fantasie beflügeln und uns auch tagsüber träumen lassen, haben sie alle dogmatischen Anfechtungen mit der Gelassenheit der Unsterblichen überlebt. Stets unterstützt von Künstlern, die in ihnen Verbündete sehen – geht es doch auch in der Kunst darum, das Unbegreifliche sinnlich begreifen zu lassen.
Nicht spotten, sondern staunen
Also wollen wir mehr über sie wissen, nicht spotten, sondern staunen. Fündig werden wir beim US-Schriftsteller Eliot Weinberger und seinem schönen Essay „Angels & Saints“von 2020, voll mit wunderlichen Fakten, die sich wie von selbst mit Poesie füllen. Also, wie sehen Engel aus? In der Bibel tauchen sie meist nur en passant auf. Sie wirken wie junge Männer, erst in der späteren Ikonografie verwandeln sie sich in zarte Frauen oder dralle Putten. Gott hat seine Botschafter körperlos erschaffen. Dennoch manifestieren sie sich, haben sprichwörtliche Zungen und lobpreisen singend den Herrn – ein flagrantes Rätsel, über das sich die Scholastiker im Mittelalter traktateweise den Kopf zerbrachen. Nur die viel belächelte Debatte darüber, „wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können“, ist eine Parodie. Tatsächlich stand die Frage im geistigen Raum, ob viele von ihnen zugleich an einem Ort sein können, und dahinter stecken bis heute relevante philosophische Probleme über das Verhältnis des Materiellen zum Geistigen.
Etwas albern wirkt freilich die Spekulation über die Anzahl. Von „zehntausend mal zehntausend, und tausende und tausende“Engeln weiß die Offenbarung. „Mehr als Sandkörner am Strand“vermutete Bernardino di Siena. Die höchste konkrete Schätzung liefert das apokryphe Buch Enoch: 34,72 Milliarden. Ziemlich viele jedenfalls, dafür, dass sie seit der Menschwerdung Gottes ihre pädagogische Rolle eingebüßt haben. Davor mussten sie uns alle ewigen Wahrheiten lehren, auch die Griechen ihre Philosophie, glaubte Clemens von Alexandria.
Neue Aufgaben für die alten Boten
Manches erledigten sie tadellos: Einer verhinderte, dass Abraham seinen Sohn Isaak opferte, ein anderer verkündete Maria, dass sie schwanger war. Doch Sünde und Götzendienst wucherten weiter, es war Zeit für einen Messias. Dessen Apostel wären die obsoleten Engel gern losgeworden, vermutet Weinberger. Er zitiert Paulus, der über Glaubensbrüder klagt, die mit Engelserscheinungen prahlen. Aber die Christen hingen eben an den Abgesandten. Also erhielten diese neue Aufgaben: Sie sollen die Seelen ins Jenseits geleiten, legitimiert nur von einer einzigen Bibelzeile, im Gleichnis vom Reichen und dem Bettler Lazarus. Aber es erklärt, warum Engel auf so vielen Gräbern zu finden sind, aus Gips für Arme oder Marmor für Reiche. Noch Newton hoffte, am Himmelsgewölbe wehre eine Phalanx von Engeln Kometen ab. Als die Europäer in Amerika auch Menschen entdeckten, spekulierten sie, dass nach der Sintflut Engel einige Exemplare dorthin transportiert hätten. Bis heute dürfen sie uns als Schutzengel exklusiv umsorgen. Dass sie auch dabei oft scheitern, entschuldigt Thomas von Aquin: Es liege „nicht an der Nachlässigkeit der Engel, sondern an der Böswilligkeit der Menschen“. Wobei uns Dämonen übel mitspielen. Diese gefallenen Engel werden, anders als ihre braven Kollegen, fast immer als extrem schlau beschrieben. Die beiden Lager bekämpfen sich.
Ja, Engel sind nicht hold und lieblich, sondern laut Bibel ziemlich kriegerisch. Himmlische Heerscharen, mit dem Erzengel Michael als General. Intellektueller veranlagt ist Gabriel, der im Islam Jibril heißt und dem Propheten Mohammed den Koran diktierte.
Oder sollen wir uns die Engel so vorstellen wie in der jüdischen Kabbala? Sie entstehen und vergehen dort in einem Nu, fast wie Elementarteilchen. Kaum bleibt ihnen Zeit, das Lob Gottes anzustimmen. Ein solcher „Angelus Novus“starrt aus jener Zeichnung von Paul Klee, die Walter Benjamin erwarb, innig liebte und bis zum Selbstmord im Exil
Denn Geister können, wenn sie irgend wollen, ein jegliches Geschlecht, ja beide führen, so zart und einfach ist ihr reiner Stoff.
Der englische Dichter John Milton sah Engel in „Paradise Lost“als genderfluid.
mit sich trug. Er verstand ihn als „Engel der Geschichte“, dessen Augen sich auf die Vergangenheit richten und der entsetzt mitansehen muss, was Menschen einander antun.
Liegt darin das realistische Verständnis? Schließen wir lieber mit Bariona, dem Weihnachtsspiel, das der gottlose Jean-Paul Sartre 1940 im Kriegsgefangenenlager in Trier auf Wunsch seiner katholischen Kameraden schrieb und aufführte. „Ein Engel ist ein Mensch wie Sie und ich“, erklärt dort der Bänkelsänger, „aber der Herr hat seine Hand über ihn gehalten und ihm gesagt: Siehe, ich brauche dich, diesmal sei ein Engel.“Und da steht er nun vor den Hirten, er ist überfordert, er zittert, ihn friert. Denn seine Botschaft ist so ungewöhnlich, verwirrend, verstörend – weil sie, inmitten all des endlosen Übels, eine frohe Botschaft ist.