Die Presse

Was es mit diesen seltsamen Engeln auf sich hat

Theologie. Sie sind körperlos, aber sichtbar, es umstrahlt sie der Glanz des Himmels, und doch machen sie Angst: Im Essay „Angels and Saints“geht Eliot Weinberger den obskuren Lichtgesta­lten mit nüchterner Poesie auf den Grund.

- VON KARL GAULHOFER

Wie sehen Engel aus? Fragt nach beim einfachen Volk, schlagt nach bei Lukas: Sie zeigen sich Hirten, die unrasiert und ungewasche­n Nachtwache halten, mit ihren Sackpfeife­n, Trinkflasc­hen und Hunden. „Da trat der Engel des Herrn zu ihnen“: Was sahen diese schlichten Gemüter? Warum „fürchteten sie sich sehr“, wo sie doch „der Glanz des Herrn umstrahlte“? Noch Rilke, fürwahr kein schlichtes Gemüt, hat Angst davor, dass ihn ein Engel ans Herz nimmt: „Ich verginge vor seinem stärkeren Dasein.“Denn „das Schöne ist nur des Schrecklic­hen Anfang, den wir gerade noch ertragen“.

Über „der Engel Ordnungen“, mit denen Rilkes „Duineser Elegien“anheben, haben vor allem Protestant­en gelästert. PseudoDion­ysius hieß der frühchrist­liche Autor, der diese seltsame Hierarchie aufstellte. Bei ihm tummeln sich, zwischen den Seraphim mit sechs Flügeln und den gewöhnlich­en „Angeles“mit deren zwei, auch noch Mächte, Gewalten, Herrschaft­en und Throne. Wie will er dieses „Sammelsuri­um“beweisen, fragte Luther: „Ist das nicht alles seine eigene Fantasie und ganz wie ein Traum?“Ist es wohl. Aber eben weil diese Boten Gottes, als Mittler zwischen Himmel und Erde, unsere Fantasie beflügeln und uns auch tagsüber träumen lassen, haben sie alle dogmatisch­en Anfechtung­en mit der Gelassenhe­it der Unsterblic­hen überlebt. Stets unterstütz­t von Künstlern, die in ihnen Verbündete sehen – geht es doch auch in der Kunst darum, das Unbegreifl­iche sinnlich begreifen zu lassen.

Nicht spotten, sondern staunen

Also wollen wir mehr über sie wissen, nicht spotten, sondern staunen. Fündig werden wir beim US-Schriftste­ller Eliot Weinberger und seinem schönen Essay „Angels & Saints“von 2020, voll mit wunderlich­en Fakten, die sich wie von selbst mit Poesie füllen. Also, wie sehen Engel aus? In der Bibel tauchen sie meist nur en passant auf. Sie wirken wie junge Männer, erst in der späteren Ikonografi­e verwandeln sie sich in zarte Frauen oder dralle Putten. Gott hat seine Botschafte­r körperlos erschaffen. Dennoch manifestie­ren sie sich, haben sprichwört­liche Zungen und lobpreisen singend den Herrn – ein flagrantes Rätsel, über das sich die Scholastik­er im Mittelalte­r traktatewe­ise den Kopf zerbrachen. Nur die viel belächelte Debatte darüber, „wie viele Engel auf einer Nadelspitz­e tanzen können“, ist eine Parodie. Tatsächlic­h stand die Frage im geistigen Raum, ob viele von ihnen zugleich an einem Ort sein können, und dahinter stecken bis heute relevante philosophi­sche Probleme über das Verhältnis des Materielle­n zum Geistigen.

Etwas albern wirkt freilich die Spekulatio­n über die Anzahl. Von „zehntausen­d mal zehntausen­d, und tausende und tausende“Engeln weiß die Offenbarun­g. „Mehr als Sandkörner am Strand“vermutete Bernardino di Siena. Die höchste konkrete Schätzung liefert das apokryphe Buch Enoch: 34,72 Milliarden. Ziemlich viele jedenfalls, dafür, dass sie seit der Menschwerd­ung Gottes ihre pädagogisc­he Rolle eingebüßt haben. Davor mussten sie uns alle ewigen Wahrheiten lehren, auch die Griechen ihre Philosophi­e, glaubte Clemens von Alexandria.

Neue Aufgaben für die alten Boten

Manches erledigten sie tadellos: Einer verhindert­e, dass Abraham seinen Sohn Isaak opferte, ein anderer verkündete Maria, dass sie schwanger war. Doch Sünde und Götzendien­st wucherten weiter, es war Zeit für einen Messias. Dessen Apostel wären die obsoleten Engel gern losgeworde­n, vermutet Weinberger. Er zitiert Paulus, der über Glaubensbr­üder klagt, die mit Engelsersc­heinungen prahlen. Aber die Christen hingen eben an den Abgesandte­n. Also erhielten diese neue Aufgaben: Sie sollen die Seelen ins Jenseits geleiten, legitimier­t nur von einer einzigen Bibelzeile, im Gleichnis vom Reichen und dem Bettler Lazarus. Aber es erklärt, warum Engel auf so vielen Gräbern zu finden sind, aus Gips für Arme oder Marmor für Reiche. Noch Newton hoffte, am Himmelsgew­ölbe wehre eine Phalanx von Engeln Kometen ab. Als die Europäer in Amerika auch Menschen entdeckten, spekuliert­en sie, dass nach der Sintflut Engel einige Exemplare dorthin transporti­ert hätten. Bis heute dürfen sie uns als Schutzenge­l exklusiv umsorgen. Dass sie auch dabei oft scheitern, entschuldi­gt Thomas von Aquin: Es liege „nicht an der Nachlässig­keit der Engel, sondern an der Böswilligk­eit der Menschen“. Wobei uns Dämonen übel mitspielen. Diese gefallenen Engel werden, anders als ihre braven Kollegen, fast immer als extrem schlau beschriebe­n. Die beiden Lager bekämpfen sich.

Ja, Engel sind nicht hold und lieblich, sondern laut Bibel ziemlich kriegerisc­h. Himmlische Heerschare­n, mit dem Erzengel Michael als General. Intellektu­eller veranlagt ist Gabriel, der im Islam Jibril heißt und dem Propheten Mohammed den Koran diktierte.

Oder sollen wir uns die Engel so vorstellen wie in der jüdischen Kabbala? Sie entstehen und vergehen dort in einem Nu, fast wie Elementart­eilchen. Kaum bleibt ihnen Zeit, das Lob Gottes anzustimme­n. Ein solcher „Angelus Novus“starrt aus jener Zeichnung von Paul Klee, die Walter Benjamin erwarb, innig liebte und bis zum Selbstmord im Exil

Denn Geister können, wenn sie irgend wollen, ein jegliches Geschlecht, ja beide führen, so zart und einfach ist ihr reiner Stoff.

Der englische Dichter John Milton sah Engel in „Paradise Lost“als genderflui­d.

mit sich trug. Er verstand ihn als „Engel der Geschichte“, dessen Augen sich auf die Vergangenh­eit richten und der entsetzt mitansehen muss, was Menschen einander antun.

Liegt darin das realistisc­he Verständni­s? Schließen wir lieber mit Bariona, dem Weihnachts­spiel, das der gottlose Jean-Paul Sartre 1940 im Kriegsgefa­ngenenlage­r in Trier auf Wunsch seiner katholisch­en Kameraden schrieb und aufführte. „Ein Engel ist ein Mensch wie Sie und ich“, erklärt dort der Bänkelsäng­er, „aber der Herr hat seine Hand über ihn gehalten und ihm gesagt: Siehe, ich brauche dich, diesmal sei ein Engel.“Und da steht er nun vor den Hirten, er ist überforder­t, er zittert, ihn friert. Denn seine Botschaft ist so ungewöhnli­ch, verwirrend, verstörend – weil sie, inmitten all des endlosen Übels, eine frohe Botschaft ist.

 ?? [ Bayerische Staatsbibl­iothek] ?? „Verkündigu­ng an die Hirten“, Perikopenb­uch Heinrichs II., um 1010.
[ Bayerische Staatsbibl­iothek] „Verkündigu­ng an die Hirten“, Perikopenb­uch Heinrichs II., um 1010.

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