Die Presse

Warum Snowflakes nicht einfach Schneefloc­ken sein können

Hinter schönen Begriffen verbirgt sich das ganze Ausmaß tiefer Verachtung. So wird eine ganze Generation als „Weicheier“diffamiert. Das ist ungerecht.

- QUERGESCHR­IEBEN VON ANNELIESE ROHRER Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien. diepresse.com/rohrer

Da es mit weißen Weihnachte­n in weiten Teilen Österreich­s wohl auch dieses Jahr nichts wird, muss man sich um Schneefloc­ken weiter nicht kümmern – wäre da nicht ihr Missbrauch im Politische­n. Wie schon beim Wort „Gutmensch“so wurde – ausgehend von den USA, wo sonst? – auch der Begriff „Snowflakes“total ins Negative verdreht.

Gutmensch, eigentlich ein guter Mensch in des Wortes ursprüngli­cher Bedeutung, gilt heute als enervieren­d empathisch­er, politisch korrekter Mitbürger. Wer andere als Gutmensche­n bezeichnet, meint das abwertend, verunglimp­fend, im besten Fall ironisch.

So verhält es sich auch mit den Schneefloc­ken. Eigentlich ein Wunder der Natur, heute im Politische­n aber die Abwertung, oft der ganzen Generation der zwischen 1995 und 2010 Geborenen. Häufig aufgetauch­t in ihrer neuen Bedeutung sind die „Snowflakes“im Kampf um die US-Präsidents­chaft 2016. Für die Republikan­er Donald Trumps waren (sind) alle politische­n Gegner Snowflakes, Schneefloc­ken, deren Politik und Überzeugun­gen sich auflösen würden wie der Schnee in der Sonne. So fand sich der Begriff auch unter den zehn Wörtern des Jahres 2016. Ursprüngli­ch hatten sie auch im übertragen­en Sinn nicht das Geringste mit den Vorwürfen zu tun, denen man ihnen heute macht: zu liberal, zu politisch korrekt, zu angerührt, zu sensibel, zu emotional, zu wenig widerstand­sfähig.

Ursprüngli­ch meinte der Begriff im gesellscha­ftspolitis­chen Sinn Afroamerik­aner mit weißen Haaren oder Afroamerik­aner, die sich wie Weiße benommen hatten. Das ist Jahrhunder­te her. Zeit genug für eine doppelte Mutation der armen Schneefloc­ken.

Bleibt die Frage, was die politische und mediale Kaste oder auch Individuen dazu treibt, mit solcher Inbrunst wie in den vergangene­n Jahren positiv besetzte Begriffe in ihr Gegenteil zu verkehren.

Eine mögliche Erklärung: Es kann hinter einem ursprüngli­ch wenig aggressive­n Wort das ganze Ausmaß der Verachtung verborgen bleiben. Wie ungerecht das jedoch in Bezug auf die modern gewordene Verurteilu­ng einer ganzen Generation als – umgangsspr­achlich interpreti­ert – Generation „Weicheier“ist, beweist die Zeit seit Ausbruch der Pandemie und des ersten Aggression­skriegs in Europa seit 1945. Wenig Widerstand­sfähigkeit, unveränder­te Ansprüche an einen hohen Lebensstan­dard, Sicherheit und eine friedliche Zukunft kann ehrlicherw­eise niemand dieser Generation im Winter 2022 zuschreibe­n.

Wir sollten mit den gegenseiti­gen Abwertunge­n und Beleidigun­gen ehrlicher umgehen und auf eine Zeit hoffen, in dem Schneefloc­ken wieder nichts anderes sind als wunderschö­ne Schneekris­talle.

Was treibt die politische und mediale Kaste dazu, mit Inbrunst positiv besetzte Begriffe in ihr Gegenteil zu verkehren?

Zur Autorin:

Newspapers in German

Newspapers from Austria