Beschossen mit einem Panettone
Expedition Europa: In schönster skandinavischer Transparenz ließ man mich am traditionellen Weihnachtsgottesdienst der Kirkeneser Garnison teilnehmen.
Es brannte bereits die dritte Kerze auf dem Adventkranz, als ich an der Barentssee, im norwegisch-russischen Grenzort Kirkenes, ankam. Das Erste, was ich im vergehenden Zwielicht der Mittagszeit ausmachte, war eine flott marschierende Truppe. Sieben Kilometer vom kriegsführenden Russland entfernt, heftete ich mich an ihre Fersen. Die Soldaten waren durchwegs athletisch-germanisch, auch die wenigen blonden Soldatinnen, und die meisten waren unter 20. Sie hielten vor der norwegisch-lutherischen Kirche.
Sie gehörten zum 900 Mann starken Infanterie-Bataillon, das die 196 Kilometer lange Nato-Grenze zu Russland in Nordeuropa bewacht. 30 Prozent Berufssoldaten, 70 Prozent Wehrpflichtige, erklärte mir ein Offizier. In Norwegen gilt Wehrpflicht, allerdings werden nur wenig mehr als zehn Prozent eines gemusterten Jahrgangs eingezogen. Da die Wehrpflicht auch Frauen betrifft, „gibt es mehrheitlich weibliche Bataillone, aber hier haben wir Rangers – das ist tough, sie müssen sehr gut in Form sein“.
Sie waren 15 Minuten zu früh. In schönster skandinavischer Transparenz ließ man mich am traditionellen Weihnachtsgottesdienst der Kirkeneser Garnison teilnehmen. In der weißen Kirche hingen links klassische Kreuzwegmotive, rechts Natursymboliken wie eine Sonnenstrahlen abgebende Erdkugel. Die Rangers saßen kerzengerade in den Bänken, kein Getratsche, keine Handyspielereien. Das erste der drei Lieder begann so: „Glade jul, hellige jul! Engler daler ned i skjul.“„Stille Nacht“auf Norwegisch, vier ganze Strophen, das wärmte mir gleich mal das Herz. Da sie offenbar nur das Vaterunser konnten, beteten und sangen die meisten kaum mit. Ein als „Chef“aufgerufener Recke beendete seine kurze Rede mit dem Ruf: „Möge Gott den König und das Mutterland schützen.“Aus der Truppe schallte es zurück: „Ja!“
Es brannte bereits die vierte Kerze, als ich am Tyrrhenischen Meer, im aus der apokalyptischen Camorra-Serie „Gomorrha“bekannten Neapolitaner Verzweiflungsviertel Scampia, ankam. „Altri Natali“, „Andere Weihnachten“, ein von der Stadt Neapel finanzierter Veranstaltungsreigen mit vielen traditionellen und einigen regenbogenfarbigen Advent-Events, versprach ein Konzert von „Neapolitan Gypsy Power“– in Scampia.
Während im dunklen Nordnorwegen so gut wie alle Fenster mit monoton gelben Lichterketten und Sternen erhellt waren, waren in Scampia nur einzelne Fenster beleuchtet – die dafür alle bunt und wild blinkend. Ich musste die Ecke Scampias mit der älteren Bausubstanz durchwandern, Piscinola. Es schien unvorstellbar, dass auf diesen trotz 17 Grad Tagestemperatur bereits um 17 Uhr ausgestorbenen Straßen jemand auf ein Konzert gehen würde. Plötzlich hörte und spürte ich, dass ich von hinten beschossen wurde, es traf mich an der Ferse. Ich drehte mich um – und da lag eine feine Weihnachtsbackware, ein vollkommen unversehrter Panettone. Hektisch suchte ich die Fenster nach dem Aggressor ab. Ein Christbaum hinter Milchglas erschien dank seiner aufdimmenden Beleuchtung lichterloh brennend, ein anderes Fenster dank seiner hypodelischen Röte als siebtes Tor zur Hölle. Aber alle Fenster waren zu, niemand war zu sehen. Ich ging rasch weiter.
Tatsächlich füllte sich am Abend das Theater. Reife linke Intelligenzija, darunter der Gemeinderatsabgeordnete einer linken Kleinpartei, und das alle anspornende Kraftzentrum bildete ein dicker rothäutiger Philosophieprofessor, der sich online – ohne Deutsch zu sprechen, auf Deutsch – „Maurizio der Suchende“nannte. Maurizio der Suchende war zu Fuß da. Er lebt in Scampia, „vor zwölf Jahren gab es wirklich Probleme, jetzt ist es überhaupt nicht gefährlich“.
Das Konzert begann mit 50 Minuten Verspätung. Die siebenköpfige Kapelle hatte seit zweidreiviertel Jahren nicht mehr aufgespielt. Ich hätte die sieben für ganz normale Neapolitaner gehalten, doch der Sänger forderte das Publikum auf, „Zingaro“jubelnd zu bestätigen, dass jeder der sieben ein echter „Zigeuner“sei. Sie spielten das Lied „eines Zigeuners in Auschwitz“, die seit Kusturicas „Zeit der Zigeuner“bekannte Weise „Ederlezi“, neben Italienisch und Romanes wurde auch auf Serbisch gesungen, „Srdce moje Jovano“und „Ajde Jano“: „Lass uns das Pferd verkaufen, lass uns nur tanzen, Jana, meine Seele.“Von Weihnachten war keine Rede. Und doch wärmte es das Herz.