Die Presse

Monika Helfer: Das winzige Kind weiß nichts Fortsetzun­g von Seite I

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scharfe Schneiders­chere und bohrt damit in den Männerbauc­h. Der fällt um, und keiner weiß, warum. Man lässt ihn liegen und bewegt sich fort. Die Haustür wird geöffnet, und warme Luft strömt.

Menschen lösen sich aus der Prozession, sie haben Messer unter dem Gewand, und es gelingt ihnen, die Soldaten zu verletzen, sodass sie hinfallen und den Schnee blutig machen. Sie lassen sie liegen und kehren in den Bus zurück, der auf der Straße festgefror­enen parkt. Kaninchen rennen aus dem Feld, und der Bursche mit der Stachelfri­sur ist so geschickt, eines oder zwei zu fangen und zu schlachten und zu braten. Es wird gefeiert. Ohne Salz schmeckt das Essen nach Nahrung. Der Geist der Zeit überdauert, sagt der Blinde und nagt an seinem Knöchelche­n. So lange die Frau nur auf Zettelchen schreibt, besteht keine Gefahr.

Wartet nur, bis der Heilige Tag kommt, dann besinnen sich die Menschen in den Häusern und wollen Gutes tun, nur für einen Eintrag in das Himmelsreg­ister. Aber wir werden es zu nützen wissen. Schon kommen die sauberen Menschen aus den vergoldete­n Häusern, und jeder von ihnen nimmt aus dem Bus einen Erbärmlich­en, ob Frau, ob Kind, ob Mann. Je elender, umso besser. Güte wird dem vermeintli­chen Retter geglaubt. Eine Frau in einem Persianer wickelt sich aus ihrem Pelz und legt den Säugling hinein, den sie von der Brust der Mutter gerissen hat. Das winzige Kind weiß nichts. Es kommt in ein geheiztes Haus und wird in warmem Öl gebadet, dass es glänz wie ein Diamant. Auf das feinste Tuch legt es die Frau, und sie ruft nach ihrem Mann, dass er sich erfreue über ihr Geschenk. Der Säugling liegt mitten auf dem Tisch und schläft. Soll keiner denken, dass er eine Speise ist. Als die Suppe aufgetrage­n wird, schlummert er immer noch, beim Hauptgang mit Fasan und Blaubeeren wacht er auf und schreit schrill. Derweil schwankt die Mutter um das Haus und beklagt den Verlust ihres Kindes.

Was für eine Unordnung in dieser Geschichte. Da muss doch eine Ordnung her. Da müssen die Hungrigen an den Tisch, die Schmutzige­n in den Waschraum, die Kranken in die Betten. Die Geisterbla­ssen zum Eingang. Da muss doch das viele Geld verteilt werden. Einer muss da sein, der das Finanziell­e in die Hände nimmt. Einflussre­ich und schmeichel­haft. Gib her das blutbeflec­kte Heft! Den Kindern müssen die Euros in die Röcke eingenäht werden, damit sie ihnen die Eltern nicht wegnehmen. Tick, tack machen ihre Herzlein. Zum Schein soll der Mann auf das Bild, kann nachher wieder bei seiner Schickse betrügen. Zur Scheidung fehlt uns das Geld. Wehe, er macht ihr ein Kind, dem wünsche ich Eselsohren. Ihm wünsche ich die Affenpocke­n. Knötchen, Bläschen, Pusteln, Wunden und Schorf.

Ich schlage vor, der fromme Mann soll die Sache in die Hand nehmen. Er ist zwar sehr schwach, muss deshalb von braven Frauen gestützt und unterstütz­t werden. Ein Senfpflast­er unter die Füße. Erst schlage ich vor, soll man ihm eine Hühnersupp­e offerieren. Erholt und frisch, soll er sich in einem nicht allzu weichen, sehr bequemen Bettpalast anlehnen. Jeder Einzelne soll vortreten und seine Bitten vorbringen. Das unglaublic­h viele Geld liegt in Scheinen in einer Kiste unter der Bettdecke. Spenden. Wer weiß, ob er sich da nicht einiges unter den Nagel reißt.

Was soll der Fromme mit Geld? Was soll er mit einem Hemd aus Paduaseide, im Knopfloch eine Nelke? Dem Frommen wird alles geschenkt, auch von Menschenki­ndern, die nichts haben. Er empfängt die Bittstelle­r in seinem Bettpalast.

Ich frage mich, warum ist keine Frau in dieser Position? Ich sage es dir. Weil sie zu viel nachdenkt. Frau Inspektor hat sich etabliert. Spitzenpos­ition in einer hierarchis­chen Struktur.

Soll nicht heißen, dass dieser fromme Mann nichts im Oberstübch­en hat. Schließlic­h hat er sich fünfzig Jahre schon bewährt. Hat Zartgefühl gezeigt. Hat Geld gesammelt und Kranke besucht, den Sterbenden die Sakramente erteilt. Wollt ihr wissen, wie er vorher gelebt hat? Es gibt Gerüchte, man weiß nichts Genaues. Jedenfalls segnet er mit zitternden Händen.

Der Nächste bitte! Sprich!

Die Bittstelle­rin bringt Honig als Geschenk.

„Dazu brauchen Sie keine Zähne, Vater.“„Sag an, was ist dein Kummer?“

„Ich sinne auf Rache! Wenn es dir möglich ist“, sagt die Frau mit verweintem Gesicht, „töte den, der mir das angetan hat.“Sie hält ihre Hand auf ihr Geschlecht. „Töte ihn so grausam wie möglich, ich denke dabei an den Scheiterha­ufen. Ohne Brandbesch­leuniger. Lass die Vergewalti­ger töten! Sie müssen leiden. Warte mit dem Anzünden, es kommen garantiert noch welche dazu.“

„Und was willst du für dein Heil?“, fragt der fromme Mann.

„Wenn du mir die Rache führst“, sagt sie, „ist das mein Heil.“Sie verbeugt und bekreuzigt sich.

Folgende Bitten betreffen materielle Nöte, die der fromme Mann mit Geld zu beschwicht­igen sucht. Er greift mit der Greisenhan­d in den Geldspeich­er.

Mutlose betteln um Arzneien. Nicht heilende Wunden, Vater, nichts hilft, was kann ich tun? Seelenschm­erzen sind so verschlung­en, so komplizier­t.

„Ich brauche eine Denkpause!“

Was geschieht mit den geschunden­en Mädchen? Kann man sie noch verheirate­n. Wollen sie das? Wollen sie tun, als sei nichts geschehen. Wollen sie in fremde Länder ziehen und so tun, als wären sie rein?

Der Scheiterha­ufen wird aufgebaut, gefesselte Menschen stehen reihum, sie stimmen ein Reuelied an, es nützt ihnen rein gar nichts. Die Flammen züngeln sich von den Füßen hinauf bis ins Hirn, und Asche wird. Wildschwei­ne gehen auf die Meute los, aber nur, weil sie den Nachwuchs beschützen wollen.

Indessen steigt die Sonne auf und füllt das Zimmer mit Orange, und der fromme Mann weiß, die Wahrheit ist mit Lügen vergiftet.

„Ich verliere alle Illusionen“, sagt er und klappt den Geldspeich­er auf. Sollen Diebe kommen und stehlen, ihn schreckt es nicht, sollen Diebe sich beim Verteilen des Geldes totschlage­n, ihn schreckt es nicht. Er legt sich auf das Kissen und schließt die Augen, hat keine wahrnehmba­re Atmung bis in alle Ewigkeit.

Eine Frau in einem Persianer wickelt sich aus ihrem Pelz und legt den Säugling hinein, den sie von der Brust der Mutter gerissen hat.

Geboren 1947 in Au/Bregenzerw­ald, lebt als Schriftste­llerin in Vorarlberg. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium und dem Österreich­ischen Würdigungs­preis für Literatur ausgezeich­net. Zweimal war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Löwenherz“bei Hanser.

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MONIKA HELFER

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