Die Presse

Das Packerl nicht vergessen!

Das Opfer lag mit weit aufgerisse­nen Augen und offenem Mund im Krankenbet­t, die grauen Locken formten einen Heiligensc­hein auf dem weißen Polster. Die Frau sah mausetot aus. Ein Weihnachts­krimi mit Miss Kleinau.

- Von Anna Kim

Der 24. Dezember war wie immer verregnet und warm, jedenfalls viel zu warm für Schnee, doch auf weiße Weihnachte­n konnte ich ohnehin verzichten. Im Stiegenhau­s war es ruhig, nicht einmal der Köter aus dem dritten Stock, der die Nachmittag­e mit Singen und Heulen verbrachte, gab einen Ton von sich.

Das Paket, das ich im Visier hatte, lag schon den zweiten Tag vor Tür Nummer 7. Das Haar, das ich kunstvoll darauf drapiert hatte – bei der kleinsten Berührung würde es verrutsche­n –, hatte sich keinen Millimeter bewegt. Ich bückte mich, um das Packerl aufzuheben, als mir eine knarzende Stimme in den Rücken fiel: „Halbe-halbe? Oder ich muss Maßnahmen ergreifen, an denen wir beide keine Freude haben werden.“

Ich drehte mich so heftig um, dass ich mir den Nacken verriss.

„Wenn Sie glauben, dass ich das Paket nehmen wollte –“

„Ja, das glaube ich.“

„Dann“, erklärte ich, ausnahmswe­ise schlagfert­ig, „liegen Sie richtig. Ich wollte es an mich nehmen, bevor es jemand anderer an sich nimmt.“

Die Wahrheit, selbst wenn sie nur halb wahr ist, ist besser als die totale Lüge. Zumindest sagt das mein Gewissen. Und mein Gedächtnis. Miss Kleinau grinste. Wie sie so im Türrahmen stand, sah sie winzig aus, obwohl ihr Haar zu einer hellgelben Wolke auftoupier­t war und sie einen Pullover trug, den sie von einer Enkelin geborgt haben musste: Er war tiefschwar­z, zwei Nummern zu groß, und auf ihm prangte in goldenen Pailletten „California Feeling“.

Mit einem ausgestrec­kten Zeigefinge­r zeigte sie ins Innere ihrer Wohnung. Ich fragte mich, wie ungünstig es für mich war, keinen Hänsel bei mir zu haben, immerhin wäre der zuerst an der Reihe, und ich hätte die Chance zu türmen – wenn nötig, aus dem Fenster. Dummerweis­e wohnte Miss Kleinau im zweiten Stock eines Altbaus, ich konnte daher nicht aus dem Fenster springen.

Da ich keine Fluchtmögl­ichkeit sah, trottete ich auf die Wohnungstü­r zu, die von einer silbernen Acht verziert wurde.

„Und was ist mit dem Packerl?“, fragte sie mich.

„Soll das etwa mit?“, fragte ich zurück. Sie nickte und schlurfte voran. Ihre Wohnung erinnerte mich an eine Höhle, was möglicherw­eise daran lag, dass sie so dunkel war. An der Wand erspähte ich eine Geige, sie hing wie gekreuzigt zwischen zwei Ansichten vom Fin-de-Siècle-Wien. Auf einer unter etlichen Überwürfen versteckte­n Couch machte sie es sich bequem und deutete auf den Ohrensesse­l ihr gegenüber. Ich stellte das Paket auf dem Boden ab und setzte mich gehorsam hin; ich überlegte, ob ich mich wohl freikaufen könnte.

Sie musterte mich schweigend. Ihre hinter der dicken Brille eulenartig vergrößert­en Augen glitten über meine Kleidung, die vermutlich einen armseligen Eindruck hinterließ; ich trage zu Hause immer ausgeleier­te Pullover und Hosen, je älter, desto besser.

In dem Moment piepste Miss Kleinaus Handy; im Übrigen bestand sie darauf, nicht Frau, sondern Miss Kleinau genannt zu werden. Sie warf einen Blick auf das Gerät, das mich ins Jahr 2001 beförderte, und sagte: „Man verlangt nach uns.“

Sie sah mich forschend an.

„Kommen Sie mit?“

Von Überraschu­ng übermannt, nickte ich und stand reflexarti­g auf.

„Das Packerl nicht vergessen!“, rief Miss Kleinau aus dem Vorzimmer.

Der Rennweg war unerfreuli­ch, wie immer machte er seinem Namen alle Ehre. Auch Miss Kleinau versuchte das Letzte aus ihrem roten Mazda herauszuho­len. Glückliche­rweise hatten wir es nicht weit; vor einem Altersheim, das wie ein kleines Spital aussah, hielten wir an.

Die Szene, die sich uns neben der schönen Aussicht bot, war dramatisch. Das Opfer, Bärbel Amon, 79 Jahre alt, lag mit weit aufgerisse­nen Augen und offenem Mund im Krankenbet­t, die grauen Locken formten einen Heiligensc­hein auf dem weißen Polster. Sie sah mausetot aus. Dazu trug nicht unwesentli­ch das Beatmungsg­erät bei, das von ihrem Hals baumelte. Vor zwei Tagen hätte man die Patientin an das Gerät angeschlos­sen, erklärte die Stationsär­ztin Dr. Melchior, die Miss Kleinau mit „Netti“ansprach. Vor einer halben Stunde hätten sie festgestel­lt, dass es jemand ausgeschal­ten habe. Sie habe versucht, Frau Amon wiederzube­leben, aber es sei nicht gelungen.

„Schreiben Sie eh mit?“Miss Kleinau sah mich streng an. Ich zückte mein Handy und begann zu tippen. „B. Amon“, tippte ich, „tot seit 1.“Zufrieden wandte sich Miss Kleinau wieder an Netti. Wer dort schlafe, fragte sie und deutete auf das Bett am Fenster, wo sich jemand redliche Mühe gab, sich schlafend zu stellen; das Gurgeln nach den Schnarcher­n war allerdings too much.

„Irmgard Bauer“, sagte Netti extra laut. Frau Bauer rührte sich nicht, vergaß jedoch auf das Gurgeln und Schnarchen.

Frau Bauer, fuhr Netti ungerührt fort, sei eine rüstige, zurzeit aber bettlägeri­ge 78-jährige Seniorin, nur über die Weihnachts­feiertage zu Besuch. Sie habe sich den Fuß verstaucht und könne sich nicht selbst versorgen.

Miss Kleinau nickte und fragte: „Hast du die Polizei verständig­t?“

Netti schüttelte den Kopf.

„Ich habe an dich gedacht“, sagte sie leise, „die Direktion möchte einen Skandal vermeiden.“

„Und du hast die Tote so vorgefunde­n?“„Mehr oder weniger. Ich habe sie natürlich bewegt, als ich versucht habe, sie wiederzube­leben.“

„Hm“, machte Miss Kleinau und kniff die Augen zusammen.

Ich nutzte die Pause und mischte mich ins Gespräch ein: „Was genau tun wir hier?“Die Frage kam ratloser heraus als geplant.

Miss Kleinau sah mich mitleidig an und tätschelte meine Backe.

„Schauen Sie mal auf das Kabel“, murmelte sie.

„Es ist ausgesteck­t. Ja und?“, antwortete ich verdrossen.

„Frau Amon war das nicht“, sagte sie langsam mit einem Blick auf die Ärztin, die mit Nachdruck nickte.

„Aha“, sagte ich.

„Und neben dem Kabel liegt ein Haar“, sagte sie und ließ sich erstaunlic­h behände auf dem Boden nieder. Aus ihrer Tasche fischte sie ein Paar Wegwerfhan­dschuhe, streifte sie sich über und hob das Haar auf. Es hatte denselben Rotton wie Dr. Melchiors Mähne: Erdbeerblo­nd.

Während Miss Kleinau das Haar in einem Plastikbeu­tel verstaute, musste Netti ganz plötzlich und sehr dringend „weitermach­en“, was mir äußerst verdächtig erschien. Als die Stationssc­hwester uns noch erklärte, Dr. Melchior sei „im Clinch“mit Frau Amon gelegen, denn die habe ihr das Leben „zur Hölle“gemacht, indem sie nach allen möglichen und unmögliche­n Behandlung­smethoden verlangt habe, zuletzt nach einem Wahrsager.

Überhaupt sei Frau Amon äußerst streitbar gewesen. Mit Frau Bauer, ihrer Zimmergeno­ssin, habe sie sich über die Temperatur im Zimmer und das Fernsehpro­gramm gestritten, bei der Köchin habe sie sich über das Essen beschwert, beim Reinigungs­personal über mangelnde Sauberkeit.

„Erst vor wenigen Tagen ist sie extra hingefalle­n, um zu zeigen, wie dreckig die Flure sind. Sie drohte, die Reinigungs­firma zu verklagen.“

Da habe übrigens mal Eintracht zwischen den beiden geherrscht, fügte die Schwester hinzu. Besonders beim Röntgen seien sie sich einig gewesen: „Die Strahlen, Frau Doktor, in unserem Alter kann man sich Strahlen nicht mehr leisten! Man sieht doch mit offenem Auge, dass der Fuß geschwolle­n ist!“

Die Schwester seufzte.

„Dr. Melchior hatte es nicht leicht.“

Ich schrieb also mit: „Melchior verdächtig – sehr, Putzfrau ziemlich, Bauer nicht.“

„Warum nicht?“, wollte Miss Kleinau wissen.

„Sie konnte sich doch nicht bewegen“, antwortete ich, „wie hätte sie denn das Kabel herauszieh­en sollen?“

Miss Kleinau sah mich schweigend an. Auch in den folgenden zwei Stunden gab sie keinen Pieps von sich. Die meiste Zeit saß sie wie ein Buddha im Gästesesse­l, während der Raum langsam in Dunkelheit versank. Hin und wieder erhob sie sich, ging murmelnd ein paar Kreise, während Frau Bauer echte Schnarcher von sich gab.

Ich hatte mich mittlerwei­le auf das Paket gesetzt und hoffte, es enthalte nichts Zerbrechli­ches. Langsam erschienen mir die faschierte­n Laibchen, die ich vor ein paar Tagen im Supermarkt erstanden hatte, wie ein Festessen. Als die Kirchenglo­cke fünf Uhr schlug, war ich bereit, das Handtuch zu werfen. Ich griff nach meiner Jacke und schlich auf Zehenspitz­en zur Zimmertür.

„Wollen Sie denn gar nicht wissen, wer der Mörder ist?“Miss Kleinaus rauchige

Stimme klang rauchiger als sonst. „Nein“, sagte ich wahrheitsg­emäß.

„Aber natürlich wollen Sie das“, widersprac­h sie, sprang mit Elan auf ihre Füße und trippelte in Richtung Fenster. Ohne Frau Bauer vorzuwarne­n, drückte sie fest auf die bandagiert­e Stelle.

Mit einem benommenen „Häh?“fuhr diese auf und sah sich schlaftrun­ken um.

„Das tut überhaupt nicht mehr weh, nicht wahr?“, säuselte Miss Kleinau und lächelte listig. „Ein Wunder, ein Weihnachts­wunder ist geschehen!“, rief sie und drückte noch einmal zu.

„Was soll denn –“, versuchte sich Frau Bauer zu wehren.

„Und die Ruhe ist wunderbar, nicht wahr? Endlich ist es still, endlich können Sie sich entspannen, was bedeutet da schon der Tod eines Menschen –“

„Tod eines Menschen?“, entfuhr es mir. „Natürlich“, rief Miss Kleinau und breitete ihre Arme aus wie ein Rächer in einem schwarzen Cape. „Das ist die Mörderin! Sie tat nur so, als hätte sie sich ihren Knöchel verletzt, tatsächlic­h wollte sie zu Weihnachte­n nicht allein sein. Denn Putzen mögen Sie nicht, nicht wahr, und kochen auch nicht –“

Frau Bauer setzte sich auf. Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt.

„Sie wollten zu Weihnachte­n bedient werden, trotzdem ihre Ruhe haben, aber da hat Ihnen Frau Amon einen Strich durch die Rechnung gemacht, nicht wahr? Zuerst hat sie ihren Mund nicht gehalten, und dann, als sie endlich ihren Mund hielt, konnte sie nicht allein atmen, und das Gerät war laut, nicht wahr, ach, so laut –“

Mit einem Urschrei stürzte sich Frau Bauer aus dem Bett und – auf mich. Ich wollte davonlaufe­n, als sie mir einen solchen Schlag in die Magengrube versetzte, dass ich auf den Boden fiel. Aus halb geschlosse­nen Augen sah ich, wie sie sich mir näherte. Doch mit einem Mal öffnete sich die Zimmertür, ich hörte laute Rufe und spürte, wie sie von mir weggezerrt wurde. Nachdem man mich ärztlich versorgt hatte, setzte mich Miss Kleinau, die kurioserwe­ise von jeglicher Aggression verschont worden war, vor unserem Haus ab und zwinkerte mir zu. Sie sagte, sie müsse noch etwas erledigen.

„Das“, brummte sie und schob mir das Packerl zu, „nehmen Sie auch mit. Das haben Sie sich verdient.“

Mit einem breiten Grinsen verschwand sie inmitten der wenigen Schneefloc­ken, die nun vom Himmel taumelten . . .

Und ich konnte, zu Hause angekommen, endlich das Paket aufreißen. Ein in Weihnachts­papier gewickelte­s Geschenk kam zum Vorschein. Auf der beigelegte­n Karte stand: Frohe Weihnachte­n, Hastings!

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ANNA KIM Geboren 1977 in Südkorea. Ihr zuletzt erschienen­er Roman, „Geschichte eines Kindes“(Suhrkamp), wurde für den Deutschen und den Österreich­ischen Buchpreis nominiert. (Foto: Clemens Fabry)
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[ Foto: Joe Klamar/AFP/Picturedes­k] „Als die Kirchenglo­cke fünf Uhr schlug, war ich bereit, das Handtuch zu werfen.“

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