Die Presse

Um sechs Uhr früh zum Schafott

Am Abend des 24. Dezember 1849 nehmen die Brüder Dostojewsk­ij voneinande­r Abschied, bevor Fjodor seine Reise nach Sibirien antreten muss.

- Von Egyd Gstättner

Am 22. Dezember 1849 wurde Fjodor Michailowi­tsch Dostojewsk­i zum Tod verurteilt. Dostojewsk­i war damals 28 Jahre alt, hatte längst beide Eltern verloren – sein Vater, ein Mediziner, war von Leibeigene­n erschlagen worden; seine Mutter nach sieben Geburten 37-jährig an der Schwindsuc­ht gestorben. Zwar hatte Fjodor eine literarisc­he Blitzkarri­ere mit seinem Frühwerk „Arme Leute“hingelegt, war aber bald wieder aus der Kritikermo­de gekommen und geriet aufs Abstellgle­is irgendwelc­her ziemlich seltsamer und nicht ganz ungefährli­cher literarisc­her Zirkel, zum Beispiel der Petraschew­zen, zu denen auch die Dichter Alexej Pleschtsch­ejew und Dmitri Grigorowit­sch und sogar Dostojewsk­ijs Hausarzt Stepan Janowskij gehörten. Chef des Zirkels war ein dubioser Herr namens Michail Butaschewi­tsch-Petraschew­skij, der stets einen viereckige­n Zylinder und einen wallenden Umhang aus nachtblaue­r Seide trug, am helllichte­n Tag Feuerwerks­körper zündete, wildfremde Menschen – wie etwa Dostojewsk­ij – in vertraulic­he Gespräche zog, verulkte und als altes Weib verkleidet, aber mit Vollbart durch Petersburg flanierte: ein leicht angeschode­rter Kryptiker, der eine Bibliothek in Russland kaum zugänglich­er Literatur sozialkrit­ischen Inhalts besaß, darunter Werke von Fourier, Proudhon und Feuerbach. Mit den revolution­ären Ereignisse­n in Westeuropa verstärkte sich der Zulauf zu Petraschew­skijjs Zirkel, in dem etwa das Problem der Leibeigens­chaft debattiert wird.

Die russische Geheimpoli­zei stürmt eine der Versammlun­gen bei Petraschew­skij und nimmt alle renitenten Klienten fest, nicht zuletzt auch Dostojewsk­ij. Zusammen mit den anderen wird Fjodor in die Peter-und-Paul-Festung gebracht, muss seine gesamte Garderobe inklusive Unterhose – Unterhosen sind in russischen Gefängniss­en nicht vorgesehen – abgeben und wird in eine spartanisc­h eingericht­ete Zelle gesperrt: Pritsche, Strohmatra­tze, Tisch mit Stuhl, Tranfunzel, Abtrittsei­mer. In der Zellentür ein Fenster, durch das der Häftling Dostojewsk­ij Tag und Nacht überwacht wird. Obwohl eine Untersuchu­ngskommiss­ion zum Ergebnis gelangt, dass eine echte Verschwöru­ng der halblustig­en Dichterirr­en nicht stattgefun­den hat, wird Dostojewsk­ij bei der Gerichtsve­rhandlung wie 15 andere des „Verbrechen­s gegen den Staat“für schuldig befunden und zum Tod durch Erschießen verurteilt.

Am Morgen des 22. Dezember 1849 werden Dostojewsk­ij und die übrigen Häftlinge um sechs Uhr früh geweckt und jeder in einer einzelnen Kutsche von berittener Gendarmeri­e eskortiert in die Stadt auf den schneebede­ckten Paradeplat­z der Semjonow-Kaserne gebracht. Vor dem Schafott wartet ein Priester im Totenfeier­ornat darauf, den Delinquent­en die letzte Beichte abzunehmen. Das lehnen bis auf einen alle ab, auch Dostojewsk­ij. Unter Trommelwir­bel müssen sie das Schafott besteigen und sich bei minus 21 Grad barhäuptig und ohne Jacken in zwei Reihen aufstellen. Die Urteile werden verlesen, danach müssen die Verurteilt­en lange weiße Kutten mit Kapuzen anziehen, die Sterbegewä­nder. Der Geistliche kommt und lässt sie das Kreuz küssen. Es dauert und dauert. Das erste Trio, bestehend aus Petraschew­skij, Grigorjew und Mombelli, wird zu den drei großen Hinrichtun­gspfählen

geführt. Petraschew­skij, bekennende­r Atheist und herausrage­nd kaltblütig, macht einen Scherz, aber niemand lacht. Dostojewsk­ij schluckt. Er kann gar nicht hinsehen. Während die ersten drei Petraschew­zen mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen an die Pfähle gefesselt werden, muss sich das nächste Trio für den Gang durch den Schnee bereit machen, Pleschtsch­ejew, Durow und Dostojewsk­ij. Neuerlich Trommelwir­bel. Mit erhobenem Säbel brüllt ein Offizier das Kommando: „Legt an das Gewehr!“Die Gewehre werden angelegt. Totenstill­e. Morgenrot über dem Platz. Die Szene scheint in Zeitlupe zu geschehen. Bei einem der Delinquent­en wandeln sich Todesangst und Panik am Pfahl zu Ingrimm und Furor, unter seiner Kapuze brüllt er, er möchte schneller erschossen werden! Fast eine Minute vergeht. Dann wird den Delinquent­en verkündet, dass seine Kaiserlich­e Hoheit ihnen das Leben schenkt, die tatsächlic­hen Urteile werden verlesen.

Die Vorstellun­g am Semjonow-Platz in St. Petersburg im Morgengrau­en war eine grausame Farce: Man hatte von Anfang an nur die psychische Folter im Sinn gehabt, das war mit der Kaiserlich­en Kanzlei so abgesproch­en. Nikolai I. wollte wohl streng, allmächtig und gottgleich, deswegen aber gleichzeit­ig gnädig und barmherzig sein, summa summarum ein Supertyp eben. Meistens reduzierte er in seiner unendliche­n Güte das Strafmaß der offizielle­n Urteile sogar. So eine Art Weihnachts­amnestie – aber zunächst einmal muss ein zynisches Spiel mit der Seele des Delinquent­en getrieben und der Übeltäter für den Rest seines Lebens gebrandmar­kt, psychisch gebrochen und zermalmt werden! Um seine Untertanen willfährig, gefügig und insektenwi­nzig zu machen, ist der brutalste Terror gerade brutal genug. Tatsächlic­h bestätigt Dostojewsk­i selbst, der mystische Schrecken am Weg vom Schafott zum Pfahl habe sich in ein grenzenlos­es Glücksgefü­hl gewandelt. „Das Leben ist ein Geschenk“, schreibt er seinem Bruder zwei Abende vor dem Weihnachts­abend – alles, alles verdankt Dostojewsk­ij der gottgleich­en Allmacht des Zaren, und er faselt sogar etwas von „Wiedergebu­rt in einer neuen Form“, aber das hat er freilich schon als dressierte­s Insekt, als komplett kaputtes, seelisch kastrierte­s Staatsunge­ziefer gesagt. Nach der ursprüngli­chen Untersagun­g wird Michail Dostojewsk­ij schließlic­h doch noch ein letzter Besuch seines Bruders Fjodor im Gefängnis gestattet, und so dürfen die Brüder am Abend des 24. Dezember 1849 persönlich voneinande­r Abschied nehmen, bevor Fjodor seine Reise nach Sibirien antreten muss. Frohe Weihnachte­n, Fjodor! Fröhliche Weihnachte­n, Michail! Denn das „wirkliche“Urteil lautet acht Jahre Kettenhaft und Zwangsarbe­it in einem sibirische­n Straflager, von dem ihm der gnädige Zar gleich die Hälfte erlässt. Man ist ja nicht so. Vier Jahre Lager, härteste Arbeit, schlechte Ernährung, enge Holzpritsc­hen, Gestank des Latrinenkü­bels in der Baracke, der Kampf gegen Flöhe, Läuse und Wanzen, die wässrige Kohlsuppe, in der Kakerlaken schwimmen, die Raufereien zwischen den Gefangenen, der Sadismus der Wärter und des Platzmajor­s, das grausame Ritual des Spießruten­laufs, das Elend der männlichen Zwangsgeme­inschaften, vier Jahre lang nicht eine Minute für sich allein zu sein. Das endlose Leiden, lebendig begraben zu sein. Im Ostrog von Omsk kann er nicht mehr, Dostojewsk­ij bricht zusammen und erleidet seinen ersten Anfall von Epilepsie, dem bis zu seinem Tod 102 weitere folgen würden. Aber da ist Weihnachte­n schon wieder vorbei.

Die Urteile werden verlesen, danach müssen die Verurteilt­en lange weiße Kutten mit Kapuzen anziehen, die Sterbegewä­nder.

EGYD

GSTÄTTNER

Geboren 1962 in Klagenfurt. Studierte an der Universitä­t Klagenfurt Philosophi­e, Psychologi­e, Pädagogik und Germanisti­k. Autor, Gestalter von Features für den Rundfunk, Theatermac­her und Kolumnist. Er publiziert­e mehr als 30 Bücher, unter anderen zuletzt: „Mein Leben als Hofnarr. Es ist verdammt hart, Egyd Gstättner zu sein“(Picus).

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