Ein Rehbock als Held
In der Weihnachtszeit 1922 betrat ein scheues Wesen die Lichtung der Literatur. Am 24. Dezember schrieb Arthur Schnitzler: „Von S. kommt sein neues Buch ,Bambi‘.“Zumindest die Leserschaft der „Neuen Freien Presse“wusste, welches Tier sich dahinter verbarg, denn „Bambi“von Felix Salten war dort vom 15. August bis zum 21. Oktober 1922 vorabgedruckt worden. Schnitzler war längst im Bilde, er hatte am 6. November 1921 über Saltens Text notiert: „Held ein Rehbock“. Am Christtag begann der Freund mit der Lektüre, und wenig später konnte er Salten „über seine Rehgeschichte Bambi viel Gutes“sagen. War das Tier also von Haupt bis Spiegel auf Erfolg eingestellt?
Mitnichten. Das Buch floppte. War dies den zwei Covern geschuldet, mit denen Ullstein den Band brachte? Beide Male ist weit und breit kein Reh zu sehen. Oder blieben diese angesichts der galoppierenden Inflation jener Tage lieber in Deckung? Man sucht in Wiener Gazetten vergeblich nach Rezensionen der Neuerscheinung. Auf den Titel „Bambi“stößt man aber in Kleinanzeigen der Buchhandlung Hugo Heller, die jedoch weniger Werbezwecken galten, sondern vielmehr tagesaktuelle Preise der vorrätigen Bücher wie Wasserstandsmarken bei einer Sturmflut vermeldeten. Und so kostete „Bambi“am 17. Dezember 1922 „etwa Mk. 2500“– genauer ließ sich das am Tag vor dem Erscheinen der Blätter nicht sagen, bald sollten die Preise weiter explodieren. Salten und sein Verleger entzweiten sich: „Bezüglich Ihres Romans ,Bambi‘ wiederholen wir die Sachlage noch einmal: Wir haben 8000 Exemplare gedruckt, und nur 4000 verkauft. Wenn Sie andauernd auf das für Sie unbefriedigende pekuniäre Endergebnis hinweisen, so müssen Sie doch das gleiche Recht auch uns zubilligen. Sie haben doch wenigstens einen kleinen pekuniären Ausgleich erhalten, wir jedoch haben einen offensichtlich grossen Verlust erlitten.“Angesichts eines Honorars von 900 Goldmark gehe es nicht an, „dass die schweren Inflationsjahre nun auch noch weiter dem Verleger im vorwurfsvollen Tone vorgehalten werden“. Die im Ullstein-Archiv überlieferten Zeilen schrieb Emil Herz Ende 1925; mit „Im Westen nichts Neues“feierte er 1928 den Jahrhunderterfolg. Bei „Bambi“blieb ihm das Potenzial der Geschichte vom verwaisten Kitz, dessen Mutter einem Jäger zum Opfer fiel, verborgen.
Der Autor konnte am 1. Oktober 1926 wieder frei über die Rechte am Reh verfügen und übergab sie dem Verlag Paul Zsolnay, dessen Gründung, unter Beteiligung Saltens, ebenso eine Reaktion auf die Inflation war. Bei der Neuausgabe von „Bambi“wurde vieles anders gemacht: Der Schutzumschlag zeigt Rehe beim Äsen, Salten machte die Figur im Rundfunk populär, und es erschienen zahlreiche Besprechungen. „Bambi“sollte
Vor genau 100 Jahren erschien Felix Saltens „Bambi“, das nach Startschwierigkeiten zum Klassiker avancierte. Dem Reh widmet Rudolf Neumaier nun den Versuch einer Kulturgeschichte. zum Bestseller werden. In wenigen Jahren verkaufte Zsolnay über 50.000 Exemplare, und zu Saltens Lebzeiten wurde der Band in zehn Sprachen übersetzt. 1928 ins Englische, was Autor samt Reh in den USA berühmt machte. Als Salten 1930 mit einer Journalistendelegation durch die Staaten reiste, waren es die Stars, die auf den Fotos neben dem Vater von „Bambi“stehen wollten: in Detroit Henry Ford, in Hollywood Marlene Dietrich und Buster Keaton. Zwölf Jahre, bevor Walt Disneys Animation in die Kinos kam und die Welt verzauberte.
All das erfährt man nicht aus Rudolf Neumaiers Buch „Das Reh“, von Hanser als „die faszinierende Kulturgeschichte des Rehs als Inspiration für die Menschen von Hildegard von Bingen bis Franz Marc“angekündigt und ein Jahrhundert nach „Bambi“ins Rennen geschickt. Freilich muss Neumaier, trotz eines Kapitels über das berühmte Tier aus der Literatur- und Filmgeschichte, nicht derart ausführlich über Saltens Werk berichten. Doch lassen die wenig instruktiven Seiten über „Bambi“Rückschlüsse zu auf die gesamte Monografie.
Neumaiers Buch zerfällt in zwei Teile. In der ersten Hälfte versucht er den kulturhistorischen Part abzudecken und dem Untertitel „Über ein sagenhaftes Tier“gerecht zu werden. Im Kapitel „Das Reh und die Kunst“muten die Zeilen über Franz Marc aber genauso rasch recherchiert an wie Neumaiers Funde zum Reh als lyrisches Motiv, etwa bei Robert Gernhardt oder Christian Morgenstern, die er „poetische Rehreferenten“nennt. Auch Heinz Erhardt, wahrlich nicht der schlechteste Lyriker deutscher Zunge, kommt mit einem Zweizeiler zu Wort: „Das Reh springt hoch, das Reh springt weit. / Warum auch nicht? Es hat ja Zeit.“Dieser Blütenlese folgen historische Seitenblicke auf die Volksmedizin sowie die Geschichte von Jagd und Wilderei. Im 19. Jahrhundert sei, betont Neumaier, mit der Veränderung des menschlichen Verständnisses von Natur peu a` peu auch die Anmut der Rehe stärker empfunden worden: „Zum Engel fehlen dem Reh eigentlich nur Flügel.“Dafür steht auch das Gemälde eines überirdisch wirkenden Rehs mit Kitz, das vom Wiener Maler Carl Schweninger d. J. stammt – ein Ausschnitt ziert den Schutzumschlag. Im Passus zur „Biologie“verweist Neumaier schließlich darauf, dass Rehe keine Waldbewohner seien, sondern vielmehr Waldrand und Wiese bevölkern. Eine Tatsache, die alljährlich unzählige Kitze unter den Messern der Mähmaschinen sterben lässt.
Die zweite Hälfte des Buchs konzentriert sich auf das Reh als „Politikum“. Mehr als hundert Seiten nutzt Neumaier, Journalist und selbst Jäger, als Streitschrift zur aktuellen Frage, ob das Reh beim zweifelsohne wichtigen „Waldumbau“von Monokultur zum Mischwald, etwa zur Vermeidung von Großbränden, aufgrund des „Verbisses“als Schädling gesehen und deshalb in hohen Zahlen abgeschossen werden darf. Ausführlich konfrontiert er die „Rehstreichler“mit den „Rehhassern“. Bei diesen Erörterungen hat man das Gefühl, dass der pamphletartige zweite Teil des Bands, dem eine breite Leserschaft in dieser unangemessenen Gewichtung kaum zu folgen bereit sein dürfte, schon da war, um mit einem schnell zusammengestellten, sprachlich laxen kulturgeschichtlichen Entree zu einem Buch aufgewertet zu werden, das an die so beliebten wie innovativen „Naturkunden“von Matthes & Seitz heranreicht. Ob dies gelungen ist, steht dahin.