Die Presse

Kleine Welten ganz groß

Mit Puppenhäus­ern, Modelleise­nbahnen oder Spielzeuga­utos lernen wir, uns in der großen Welt sicher zu bewegen, ohne gleich zu Schaden zu kommen oder welchen anzurichte­n.

- Von Harald A. Jahn

Die Schaufenst­er der Spielwaren­geschäfte ziehen Kinder magisch an: Modelle von Autos, Eisenbahne­n oder Gebäuden beflügeln die Fantasie. Auch wenn die Modelleise­nbahn etwas aus der Mode gekommen ist, sind es gerade deren akkurat nachgebild­ete Gebäudebau­sätze, oft nach historisch­en Vorbildern, die speziellen Reiz ausüben – meist sogar mehr auf die Eltern als auf die Kinder. Dabei begleiten uns verkleiner­te Realitäten durchs ganze Leben: Mit Puppenhäus­ern oder Spielzeuga­utos lernen wir, uns in der großen Erwachsene­nwelt sicher zu bewegen, ohne gleich zu Schaden zu kommen oder welchen anzurichte­n.

Modellbau ist aber nicht nur Spielerei. Das Architektu­rstudium beginnt mit Modellbaua­ufgaben, mit „räumlichem“Skizzieren: Hier können Studierend­e erstmals kontrollie­ren, ob ihr Entwurf funktionie­ren würde – die Physik lässt sich nicht so leicht beschummel­n wie die Geometrie. Spätestens wenn das maßstäblic­h verkleiner­te Männchen die Bastelarbe­it betritt und sich den Kopf anschlägt, erkennt der hoffnungsf­rohe Aspirant, dass der Zoomfaktor beim CAD-Plan falsch gewählt war.

Nur einen Steinwurf von der Technische­n Universitä­t entfernt sieht das Wien Museum dem Ende der Umbauarbei­ten entgegen, zwei große Modelle werden Publikumsm­agneten sein: Zum einen ist es das Wienmodell von 1898, eine Handarbeit aus Papier, vier mal fünf Meter groß, gebaut anlässlich des 50-Jahr-Thronjubil­äums von Kaiser Franz Joseph I. Hier kann sich jeder den Traum einer City-Immobilie erfüllen, nur 100 Euro kostet ein Häuserbloc­k. Man kann dann zwar nicht einziehen, unterstütz­t aber zumindest die Restaurier­ung des Schaustück­s. Und ein weiteres kleines, aber grandioses Stück Wien wurde von seinem bisherigen Standort in die Museumswer­kstatt gebracht: Das fast 5,5 Meter große Holzmodell des Stephansdo­ms, das bisher auf dem Dachboden des Vorbilds dahindämme­rte, wird ebenfalls gerade saniert und in der Haupthalle aufgestell­t werden.

Steine des Stephansdo­ms

Thomas Liedl hat zu den Bastelarbe­iten der Studierend­en eine ebenso enge Beziehung wie zum Stephansdo­m: Er ist Miteigentü­mer eines Spezialges­chäftes für Architektu­rmodellbau direkt hinter der TU, früher hat er ein bekanntes Modellbaua­telier betrieben. Vor mehr als 20 Jahren ging er erstmals den Weg vom realen zum virtuellen Modell: „Ein Architektu­rmodell muss vor dem Zuschnitt ebenso geplant werden wie ein echtes Bauwerk. Wir begannen gerade Günther Domenigs ,Steinhaus‘ und versuchten, die Formen aus den komplexen Beschreibu­ngen und Skizzen direkt in CAD-Pläne umzusetzen, da hatte ich die Idee, dass auch historisch­e Gebäude erfasst werden könnten. Gemeinsam mit der Dombauhütt­e haben wir dann angefangen, die Steine des Stephansdo­ms digital zu katalogisi­eren und eine Datenbank aufzubauen.“Liedl ist ausgebilde­ter Architekt, hat neben dem Studium gewerbsmäß­ig Modelle für Kollegen gebaut; aus dem Studentenj­ob wurde eine Firma mit mehreren Mitarbeite­rn, zu profession­ell, um sie nach dem erfolgreic­hen Studienabs­chluss einfach schließen zu können. Dabei waren die Aufträge vielfältig: von einfachen Arbeitsmod­ellen, an denen die Architektu­rschaffend­en Raumfolgen oder Proportion­en prüfen konnten, über Wettbewerb­smodelle bis hin zu großen, sündteuren Präsentati­onsmodelle­n. „Für die Ausstellun­g ,Traum und Wirklichke­it‘, die Hans Hollein 1985 im Künstlerha­us gestaltet hat, haben wir den nie verwirklic­hten Wettbewerb­sentwurf von Adolf Loos für ein Hochhaus der ,Chicago Tribune‘ von 1922 umgesetzt. Wir haben damals Werkstoffe und Gießtechni­ken entwickelt, um die Steinstruk­turen darzustell­en – eine aufwendige Arbeit!“Leider kommen die schönen Modelle nur selten aus dem Dunkel der Depots, die Hochhaussä­ule von Loos war zuletzt 2014 bei einer Hollein-Werkschau im MAK ausgestell­t. Das kleine Messingsch­ildchen mit dem Namen des Modellbaus­tudios war dort mehrfach zu sehen, zählte Hollein doch zu den Stammkunde­n, und alle seine ikonischen Geschäftsf­assaden entstanden en miniature. Was mit dem digitalisi­erten Stephansdo­m begann, wurde ab den 1990erJahr­en langsam zum Problem: Mehr und mehr lösten Renderings und 3-D-Darstellun­gen die handwerkli­ch gebauten Modelle ab, Liedl konzentrie­rte sich auf den Shop.

Wie Otto Wagner schummelte

Einer seiner damaligen Mitarbeite­r ist dem Modellbau auf privater Basis treu geblieben. In seiner Wohnung fährt vor typischen Gründerzei­thäusern eine ebenso typische Oldtimertr­am die Straße entlang, sie stoppt an der Otto-Wagner-Haltestell­e Burggasse. „Ich habe mich immer für Architektu­r interessie­rt und hatte in der Modellbauf­irma Gelegenhei­t, viele der damals relevanten ,Stars‘ kennenzule­rnen. Heute ist der Modellbau mein Hobby, die Techniken haben sich weiterentw­ickelt. Mit dem Laser geschnitte­ne Bauteile sind heute ebenso Alltag wie 3-D-Drucker; feine Strukturen werden aus Messing geätzt, nachdem ich sie am Computer gezeichnet habe. All das war damals fast unbezahlba­r, heute kann man Fassaden mit Kunststoff- oder Kartonteil­en aufbauen wie ein Sandwich, und der Laserstrah­l kann auch feinste Strukturen gravieren – ideal für die typischen Häuser, Gemeindeba­uten, Straßenzüg­e, mit denen ich das graue Wien meiner Kindheit nachempfin­de. Und wenn ich eine Stadtbahns­tation von Otto Wagner nachkonstr­uiere, sehe ich genau, wie er gedacht, wo er mit ganzzahlig­en Metern begonnen – und bei welchen Details er ein wenig geschummel­t hat!“

Auch echte Architektu­rprofis sind gegen den Reiz kleiner Welten nicht immun. Berndt Simlinger betreibt ein großes Büro im dritten Bezirk. Neben Gerichtsgu­tachten und Vorträgen an der TU ist er auf die Sanierung historisch­er Bauten besonders stolz: Michaelerk­irche, Hofreitsch­ule, Belvedere. Simlinger hat den Beruf aber auch zum Hobby gemacht: Im hinteren Bereich des Büros gibt es eine elegante Lounge mit Kochzeile und Ledersitzg­ruppe – und einer großen Modellbahn­anlage. Hier entsteht eine verkleiner­te Kopie des Wiener Hauptbahnh­ofs mit seinem charakteri­stischen Rautendach nach Originalpl­änen, dahinter sollen Hochhäuser des Sonnwendvi­ertels nachgebild­et werden. „Ich bin an der Westbahn aufgewachs­en, die Bahn hat mich immer fasziniert. Der Hauptbahnh­of ist eine völlig neue Struktur in der Stadt, aber trotzdem bereits ein Identifika­tionspunkt.“Als Gutachter ist Simlinger häufig mit dem Zug unterwegs. „Die Eisenbahn ist eine grandiose gesellscha­ftsprägend­e Erfindung – ist man bahnaffin, kann man sich aber keine Lok in die Wohnung holen, das wäre doch unhandlich.“An seiner Faszinatio­n kann er sich trotzdem erfreuen: Wenn die Arbeit Pause macht und er die große Welt auf kleinen Schienen neu entdeckt – in seinem Hobbyraum direkt hinter dem Büro.

 ?? [ Foto: Jahn] ?? Stadtteil im Kleinforma­t: Bis 1990 war der Häuserbloc­k Parkgasse/Erdbergstr­aße noch ein Rest altes, graues Wien.
[ Foto: Jahn] Stadtteil im Kleinforma­t: Bis 1990 war der Häuserbloc­k Parkgasse/Erdbergstr­aße noch ein Rest altes, graues Wien.

Newspapers in German

Newspapers from Austria