Kleine Welten ganz groß
Mit Puppenhäusern, Modelleisenbahnen oder Spielzeugautos lernen wir, uns in der großen Welt sicher zu bewegen, ohne gleich zu Schaden zu kommen oder welchen anzurichten.
Die Schaufenster der Spielwarengeschäfte ziehen Kinder magisch an: Modelle von Autos, Eisenbahnen oder Gebäuden beflügeln die Fantasie. Auch wenn die Modelleisenbahn etwas aus der Mode gekommen ist, sind es gerade deren akkurat nachgebildete Gebäudebausätze, oft nach historischen Vorbildern, die speziellen Reiz ausüben – meist sogar mehr auf die Eltern als auf die Kinder. Dabei begleiten uns verkleinerte Realitäten durchs ganze Leben: Mit Puppenhäusern oder Spielzeugautos lernen wir, uns in der großen Erwachsenenwelt sicher zu bewegen, ohne gleich zu Schaden zu kommen oder welchen anzurichten.
Modellbau ist aber nicht nur Spielerei. Das Architekturstudium beginnt mit Modellbauaufgaben, mit „räumlichem“Skizzieren: Hier können Studierende erstmals kontrollieren, ob ihr Entwurf funktionieren würde – die Physik lässt sich nicht so leicht beschummeln wie die Geometrie. Spätestens wenn das maßstäblich verkleinerte Männchen die Bastelarbeit betritt und sich den Kopf anschlägt, erkennt der hoffnungsfrohe Aspirant, dass der Zoomfaktor beim CAD-Plan falsch gewählt war.
Nur einen Steinwurf von der Technischen Universität entfernt sieht das Wien Museum dem Ende der Umbauarbeiten entgegen, zwei große Modelle werden Publikumsmagneten sein: Zum einen ist es das Wienmodell von 1898, eine Handarbeit aus Papier, vier mal fünf Meter groß, gebaut anlässlich des 50-Jahr-Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph I. Hier kann sich jeder den Traum einer City-Immobilie erfüllen, nur 100 Euro kostet ein Häuserblock. Man kann dann zwar nicht einziehen, unterstützt aber zumindest die Restaurierung des Schaustücks. Und ein weiteres kleines, aber grandioses Stück Wien wurde von seinem bisherigen Standort in die Museumswerkstatt gebracht: Das fast 5,5 Meter große Holzmodell des Stephansdoms, das bisher auf dem Dachboden des Vorbilds dahindämmerte, wird ebenfalls gerade saniert und in der Haupthalle aufgestellt werden.
Steine des Stephansdoms
Thomas Liedl hat zu den Bastelarbeiten der Studierenden eine ebenso enge Beziehung wie zum Stephansdom: Er ist Miteigentümer eines Spezialgeschäftes für Architekturmodellbau direkt hinter der TU, früher hat er ein bekanntes Modellbauatelier betrieben. Vor mehr als 20 Jahren ging er erstmals den Weg vom realen zum virtuellen Modell: „Ein Architekturmodell muss vor dem Zuschnitt ebenso geplant werden wie ein echtes Bauwerk. Wir begannen gerade Günther Domenigs ,Steinhaus‘ und versuchten, die Formen aus den komplexen Beschreibungen und Skizzen direkt in CAD-Pläne umzusetzen, da hatte ich die Idee, dass auch historische Gebäude erfasst werden könnten. Gemeinsam mit der Dombauhütte haben wir dann angefangen, die Steine des Stephansdoms digital zu katalogisieren und eine Datenbank aufzubauen.“Liedl ist ausgebildeter Architekt, hat neben dem Studium gewerbsmäßig Modelle für Kollegen gebaut; aus dem Studentenjob wurde eine Firma mit mehreren Mitarbeitern, zu professionell, um sie nach dem erfolgreichen Studienabschluss einfach schließen zu können. Dabei waren die Aufträge vielfältig: von einfachen Arbeitsmodellen, an denen die Architekturschaffenden Raumfolgen oder Proportionen prüfen konnten, über Wettbewerbsmodelle bis hin zu großen, sündteuren Präsentationsmodellen. „Für die Ausstellung ,Traum und Wirklichkeit‘, die Hans Hollein 1985 im Künstlerhaus gestaltet hat, haben wir den nie verwirklichten Wettbewerbsentwurf von Adolf Loos für ein Hochhaus der ,Chicago Tribune‘ von 1922 umgesetzt. Wir haben damals Werkstoffe und Gießtechniken entwickelt, um die Steinstrukturen darzustellen – eine aufwendige Arbeit!“Leider kommen die schönen Modelle nur selten aus dem Dunkel der Depots, die Hochhaussäule von Loos war zuletzt 2014 bei einer Hollein-Werkschau im MAK ausgestellt. Das kleine Messingschildchen mit dem Namen des Modellbaustudios war dort mehrfach zu sehen, zählte Hollein doch zu den Stammkunden, und alle seine ikonischen Geschäftsfassaden entstanden en miniature. Was mit dem digitalisierten Stephansdom begann, wurde ab den 1990erJahren langsam zum Problem: Mehr und mehr lösten Renderings und 3-D-Darstellungen die handwerklich gebauten Modelle ab, Liedl konzentrierte sich auf den Shop.
Wie Otto Wagner schummelte
Einer seiner damaligen Mitarbeiter ist dem Modellbau auf privater Basis treu geblieben. In seiner Wohnung fährt vor typischen Gründerzeithäusern eine ebenso typische Oldtimertram die Straße entlang, sie stoppt an der Otto-Wagner-Haltestelle Burggasse. „Ich habe mich immer für Architektur interessiert und hatte in der Modellbaufirma Gelegenheit, viele der damals relevanten ,Stars‘ kennenzulernen. Heute ist der Modellbau mein Hobby, die Techniken haben sich weiterentwickelt. Mit dem Laser geschnittene Bauteile sind heute ebenso Alltag wie 3-D-Drucker; feine Strukturen werden aus Messing geätzt, nachdem ich sie am Computer gezeichnet habe. All das war damals fast unbezahlbar, heute kann man Fassaden mit Kunststoff- oder Kartonteilen aufbauen wie ein Sandwich, und der Laserstrahl kann auch feinste Strukturen gravieren – ideal für die typischen Häuser, Gemeindebauten, Straßenzüge, mit denen ich das graue Wien meiner Kindheit nachempfinde. Und wenn ich eine Stadtbahnstation von Otto Wagner nachkonstruiere, sehe ich genau, wie er gedacht, wo er mit ganzzahligen Metern begonnen – und bei welchen Details er ein wenig geschummelt hat!“
Auch echte Architekturprofis sind gegen den Reiz kleiner Welten nicht immun. Berndt Simlinger betreibt ein großes Büro im dritten Bezirk. Neben Gerichtsgutachten und Vorträgen an der TU ist er auf die Sanierung historischer Bauten besonders stolz: Michaelerkirche, Hofreitschule, Belvedere. Simlinger hat den Beruf aber auch zum Hobby gemacht: Im hinteren Bereich des Büros gibt es eine elegante Lounge mit Kochzeile und Ledersitzgruppe – und einer großen Modellbahnanlage. Hier entsteht eine verkleinerte Kopie des Wiener Hauptbahnhofs mit seinem charakteristischen Rautendach nach Originalplänen, dahinter sollen Hochhäuser des Sonnwendviertels nachgebildet werden. „Ich bin an der Westbahn aufgewachsen, die Bahn hat mich immer fasziniert. Der Hauptbahnhof ist eine völlig neue Struktur in der Stadt, aber trotzdem bereits ein Identifikationspunkt.“Als Gutachter ist Simlinger häufig mit dem Zug unterwegs. „Die Eisenbahn ist eine grandiose gesellschaftsprägende Erfindung – ist man bahnaffin, kann man sich aber keine Lok in die Wohnung holen, das wäre doch unhandlich.“An seiner Faszination kann er sich trotzdem erfreuen: Wenn die Arbeit Pause macht und er die große Welt auf kleinen Schienen neu entdeckt – in seinem Hobbyraum direkt hinter dem Büro.