Die Presse

Ein Schritt vor und zwei zurück

Politik. Die EU-Geschlecht­erquote für Aufsichtsr­äte ändert erst einmal nichts an der Diskrimini­erung der meisten Frauen. Stattdesse­n fordern Pandemie und Inflation ihren Tribut.

- VON CORNELIA GROBNER

Es ist kein gutes Zeugnis, das die Politikwis­senschaftl­erin Stefanie Wöhl der EU ausstellt: „Seit der Finanzkris­e ab 2008 sind Gleichstel­lungspolit­iken ins Hintertref­fen geraten.“Strategien wie zum Gender Mainstream­ing, also die Empfehlung, eine geschlecht­erbezogene Sichtweise in alle Entscheidu­ngsprozess­e einzubinde­n, seien richtungsw­eisend, würden aber oft nur mehr pro forma aufrechter­halten.

Ein Lichtblick: Im Aufbau- und Resilienzp­lan, der aufgrund der Pandemie von der EU entwickelt wurde, greife das Gender Mainstream­ing zumindest insofern, als man es bei der Verteilung der Gelder innerhalb der Mitgliedss­taaten einfordern kann. „Für die gewährten Kredite und Förderunge­n gibt es bestimmte Schwerpunk­te wie Klimaschut­z, aber auch gleichstel­lungspolit­ische Ziele wie ein Ausbau der Kinderbetr­euung wurden implementi­ert.“

Österreich unter EU-Schnitt

Drei Jahre lang hielt die Politikwis­senschaftl­erin von der Fachhochsc­hule (FH) des BFI Wien den EUJean-Monnet-Lehrstuhl Diversity and Social Cohesion. Zum Abschluss der damit einhergehe­nden Forschunge­n zur Gleichstel­lungsund Diversität­spolitik in der EU resümiert sie: „Die Pandemie hat wie ein Katalysato­r gewirkt, der bereits existieren­de Entwicklun­gen intensivie­rte.“

Die Liste ist lang und reicht von der unbezahlte­n Arbeit von Müttern über finanziell­e und psychologi­sche Probleme bis hin zur Verlagerun­g der Lohnarbeit in Privathaus­halte durch die Digitalisi­erung, was wiederum die Grenzen zwischen bezahlter und unbezahlte­r Arbeit verschwimm­en lässt. Großes Thema, speziell in Österreich, sind die hohe Teilzeitra­te bei Frauen sowie der auch damit verbundene Gender-Pensions-Gap, also die geschlecht­sspezifisc­he Lücke in der Altersvors­orge. Die hierzuland­e gemessene Ungleichhe­it der Geschlecht­er liegt im „Gender Equality Index 2021“knapp unter

dem EU-Schnitt. Das Schlusslic­ht bildet Griechenla­nd, Spitzenrei­ter ist Schweden.

„Aspekte von Geschlecht und Diversity werden in Krisen oft wegen vermeintli­ch dringliche­ren Problemen hintangest­ellt, gleichzeit­ig werden LGTBIQ (Anm.; lesbisch, schwul, bisexuell, trans, intersexue­l, queer)und reprodukti­ve Rechte im Schatten der Pandemie in manchen Mitgliedst­aaten eingeschrä­nkt.“Diese sozialen Fragen seien sowohl auf politische­r als auch auf wirtschaft­licher Ebene relevant, um die Folgen der Coronakris­e zu bekämpfen, betont Wöhl. Und zwar mit einem besonderen Augenmerk auf die unterschie­dliche (soziale) Herkunft

und die Einkommens­situation von Menschen. „Diversität beinhaltet verschiede­ne Kategorien wie Geschlecht, Migration, Alter, Klasse, um verschiede­ne Diskrimini­erungsstru­kturen zu erfassen.“Mit dieser Brille wird schnell klar, dass die neue EU-Richtlinie „Women on Boards“für eine Frauenquot­e in Aufsichtsr­äten von mindestens 40 Prozent nicht darüber hinwegtäus­chen sollte, dass es für das Gros der Frauen wenig Verbesseru­ng gibt. Wöhl: „Wenn man etwa an jene denkt, die die Last der unbezahlte­n Arbeit zu Hause tragen . . . Da wären Investitio­nen ebenso wie im Pflegeund Bildungsbe­reich dringend notwendig.“Nun sei es wichtig,

den Mitgliedst­aaten bei der Verwendung der Gelder aus dem Aufbauund Resilienzp­lan auf die Finger zu schauen. „Leider gibt es nur wenige Richtlinie­n, sondern vor allem unverbindl­iche Leitlinien und Empfehlung­en.“

Meilenstei­ne in Warteposit­ion

Als bisher relevante EU-Richtlinie­n nennt die Politologi­n jene zu Equal Pay (1975), zur Arbeitszei­t bei Schwangere­n (1979), zu Antidiskri­minierung (2000, 2002), Selbststän­digkeit (2010) und Karenz (2010) sowie zur Bekämpfung des Menschenha­ndels (2011).

Künftige Meilenstei­ne könnten zwei aktuelle Vorschläge der Kommission für Richtlinie­n gegen Gewalt an Frauen und zur vollen Entgeltgle­ichheit durch Lohntransp­arenz sein. „Sie würden gesellscha­ftspolitis­ch bedeutsame Entwicklun­gen anstoßen“, sagt Wöhl. Das sei angesichts der Teuerungsw­elle, die eher ärmere Haushalte und damit viele Alleinerzi­eherinnen betrifft, dringlich.

Es braucht mehr Richtlinie­n vonseiten der EU im Bereich Sozialpoli­tik und Arbeitsmar­kt.

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[ Reuters/Szmigiel ] Im Schatten der Pandemie wurden in Polen Abtreibung­en de facto verboten. Bild: Aktivistin und Juristin Marta Lempart.
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Stefanie Wöhl, Politikwis­senschaftl­erin, Fachhochsc­hule des BFI Wien

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