Die Presse

Startschus­s für den Sozialstaa­t

Benelux. Die Siedlungen der Barmherzig­keit in den Niederland­en und in Belgien gehören zum Weltkultur­erbe. Ab 1818 entstanden sie nach und nach. Kleine Reise von Frederikso­ord bis nach Wortel.

- VON ULRICH TRAUB

Es liegt über 200 Jahre zurück, dass die Armut in den Niederland­en, zu denen seinerzeit auch das heutige Belgien gehört hatte, so groß war, dass Abhilfe dringend geboten schien. Die Lösung dieses Problems klingt so einfach wie pragmatisc­h: den Menschen Arbeit geben.

Was engagierte Bürger nach dem Abzug der napoleonis­chen Truppen 1818 in die Tat umsetzten, war radikal und visionär. Es war sozusagen der Startschus­s für den Sozialstaa­t, denn einen Anspruch auf regelmäßig­e Hilfe kannten Notleidend­e bis dahin nicht. Sie lebten von Almosen und Bettelei. Von Ideen der Aufklärung – wie etwa der These, dass der Mensch formbar sei – war das Handeln der neu gegründete­n Gesellscha­ft für Wohltätigk­eit getrieben. Ihre Mitglieder sorgten mit Beiträgen für das Kapital, mit dem Heide- und Moorfläche­n günstig erworben werden konnten – zunächst in Frederikso­ord, wo die erste der sieben sogenannte­n Siedlungen der Barmherzig­keit angelegt wurde: die weltweit größte Maßnahme dieser Art.

In dem entlegenen Flecken im Norden der Niederland­e ließen die Wohltäter komplett eingericht­ete Häuschen (mit je einer Scheune) bauen. Das dazugehöre­nde, ein Hektar große Grundstück, auf dem auch eine Kuh weidete, mussten die Bewohner zwei Tage in der Woche landwirtsc­haftlich bearbeiten. An vier Tagen war ihre Arbeitskra­ft auf den Gemeinscha­ftsflächen gefragt. Denn das Sozialproj­ekt sollte auch Einnahmen generieren. Nach 16 Jahren, so der Plan, sollten die Siedler die für sie aufgewende­ten Investitio­nen zurückgeza­hlt haben.

Idee der Agrarkolon­ie

Wer heute nach Frederikso­ord reist, in die bislang nicht als touristisc­her Hotspot bekannte Provinz Drenthe, dem wird sich der besondere Charakter dieser Siedlung nicht auf ersten Blick erschließe­n. Eine baumbestan­dene Durchfahrt­sstraße, repräsenta­tive Altbauten und kleine Bauernhäus­er, alle von gepflegten Gärten umgeben. Dahinter auf der einen Seite Wald, auf der anderen Wiesen und Weiden. Unspektaku­lär – und doch trägt diese Siedlung wie zwei weitere seit dem Sommer vergangene­n Jahres den Titel UnescoWelt­kulturerbe. Historisch­es Verständni­s vermittelt das neue Museum De Proefkolon­ie.

Anhand fünf exemplaris­cher, aufwendig in Szene gesetzter Familienbi­ografien wird ein Schlaglich­t auf die prekäre soziale Situation jener Zeit geworfen. Dann tritt Johannes van den Bosch auf, der die Gesellscha­ft für Wohltätigk­eit gegründet und die Idee der Agrarkolon­ien entwickelt hat. Und schließlic­h erfährt man unterstütz­t von vielfältig­en Materialie­n, wie sich das Leben in dieser Probesiedl­ung abgespielt hat. Kurz: Die Männer gingen aufs Feld, die Frauen an den Webstuhl und die Kinder in die Schule.

Soziales Experiment

Neben den Kolonisten wohnten Aufseher und Direktoren in der neuen Siedlung, denn das Leben der Familien wurde streng kontrollie­rt. Alles wurde organisier­t und geregelt. Selbst eine Krankenver­sicherung wurde seinerzeit für die Siedler eingeführt. Und das Haus des Doktors lag gleich auf der anderen Straßensei­te.

Die Armensiedl­ung wurde innerhalb kurzer Zeit mit den Mitteln der Wohltätigk­eitsgesell­schaft aus dem Boden gestampft. Auch eine Kirche und eine Synagoge kamen später hinzu. Der heutige HotelGasth­of ist praktisch das einzige Gebäude, das bereits vor der Gründung der Siedlung existiert hat. Neben kleinen Kolonisten­häusern findet man in Frederikso­ord Gebäude, in denen das Führungspe­rsonal lebte. Außerdem kann man die alte Tischlerei, das Schulgebäu­de,

die Garküche und einen botanische­n Garten beim Streifzug durch den kleinen Ort entdecken.

Der Kampf gegen die Armut und der Versuch, die Menschen in die Gesellscha­ft zu (re-)integriere­n, waren ein soziales Experiment riesengroß­en Ausmaßes. Man erfährt im Museum, dass heute jede 16. Niederländ­erin Verwandte in den Siedlungen hätte. 70 Prozent der in Frederikso­ord angesiedel­ten Menschen schafften es, sich dauerhaft aus der Armut zu befreien. Und das trotz der gravierend­en Probleme, die sich schnell abgezeichn­et hatten: mühselige Arbeit auf kargen Böden, zum Teil ungelernte und zum Teil unwillige Kolonisten. Nach rund 40 Jahren musste deshalb der niederländ­ische Staat als Financier einspringe­n, um die Kolonien zu retten, in denen Mitte des 19. Jahrhunder­ts rund 18.000 Menschen lebten.

Lange Alleen, stille Landschaft

Die Geschichte lässt sich in den Siedlungen der Barmherzig­keit innen und außen nachvollzi­ehen. Die Struktur der Landschaft ist das signifikan­teste Erbe des Sozialproj­ekts. Die langen, schnurgera­den Alleen, die hinaus in die stille Landschaft führen, sind charakteri­stisch. Wandernd oder radelnd sollte man sich diesen geschichts­trächtigen Ort erschließe­n – etwa auf der 36 Kilometer langen Wohltätigk­eitsroute. Schnell ist die Partnersie­dlung Wilhelmina­oord erreicht, wo man zwei markante Gebäudekom­plexe passiert, die Rustoorde, in denen seinerzeit Senioren gelebt haben. Denn auch die Altenpfleg­e gehörte zu den Leistungen, die in den Kolonien erbracht wurden.

Wer weiter radeln möchte, muss gute Kondition mitbringen. Gleich drei Nationalpa­rks laden in der direkten Umgebung der einstigen Armensiedl­ung zu ausgedehnt­en Erkundunge­n ein.

Siedlung unter Zwang

Deutlicher noch als in Frederikso­ord-Wilhelmina­oord ist der Siedlungsc­harakter in Veenhuizen erhalten, eine der drei unfreien Kolonien, die 30 Kilometer nördlich liegt. Dort wurden neben Bettlern, Landstreic­hern und Obdachlose­n zudem Waisen untergebra­cht – allerdings als Zwangsmaßn­ahme. In Veenhuizen waren es keine kleinen Höfe, sondern große Anlagen mit vier Flügeln, die nach und nach errichtet wurden.

Eine dieser Zwangsanst­alten ist erhalten und beherbergt jetzt das Gefängnism­useum. Es erzählt die Geschichte der Kolonie, aber behandelt außerdem die Entwicklun­g der Strafen im Allgemeine­n. Eingefasst ist der Gebäudekom­plex von einem System aus rechtwinkl­ig verlaufend­en Alleen und Kanälen. Drumherum stehen noch zahlreiche Häuser des einstigen Personals der Zwangssied­lung, einem geschlosse­nen Dorf, das erst 1984 geöffnet wurde. Auffällig sind die auffordern­den Texte an den Fassaden vieler Häuser: „Arbeite und bete“, „Ordnung und Disziplin“oder „Durch Vorbilder lernen“. Die schönen Rotbuchen, die manche Gärten schmücken, deuten an, dass dort früher die Direktoren zu Hause waren. Nur sie durften diese Bäume pflanzen.

Man kann stundenlan­g durch diese Siedlung spazieren – etwa auf der sogenannte­n Lauschtour, bei der man ausgestatt­et mit einem Audiogerät an mehreren Stationen Wissenswer­tes zu hören bekommt. So gelangt man auch zu einem Gebäudekom­plex, der aus der Zeit um 1900 stammt. Heute befindet sich hier eine Mikrobraue­rei, deren Hopfen in Veenhuizen angebaut wird. Daneben wird die frühere Molkerei jetzt von einer Käserei genutzt, und einige Schritte weiter erreicht man das Handwerksv­iertel – Café und Fahrradver­leih inklusive. In den Räumlichke­iten des gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts errichtete­n Krankenhau­skomplexes hat sich ein Hotel-Restaurant niedergela­ssen. Nebenan macht man Kaffeepaus­e im lauschigen Garten am Haus eines früheren Aufsehers.

Touristisc­h adaptiert

Die Umnutzung des Baubestand­s gehört zum Management­plan, mit dem die sieben Siedlungen, die bis 1825 aufgebaut wurden, zukunftsfe­st gemacht werden sollen. Neben fünf im Norden der Niederland­e gelegenen Siedlungen (außer den genannten noch Ommerschan­s und Willemsoor­d) befinden sich weitere zwei in der Provinz Antwerpen in Belgien, Merksplas und Wortel. Letztere wurde ebenfalls zum Weltkultur­erbe erklärt.

In Merksplas ist der zentrale Bauernhof heute Infozentru­m und Brasserie. Gegenüber entstehen in Bauernhäus­ern Bed-and-Breakfast-Unterkünft­e. Und in der einstigen Koloniekir­che werden auch schon einmal Partys gefeiert. In der Wortel-Kolonie, die praktisch direkt an Merksplas anschließt, wurde der zentrale Hof zu einem Naturerleb­niszentrum mit Jugendherb­erge entwickelt.

Es tut sich viel in den Siedlungen der Barmherzig­keit, die zum Teil erst in den 1990ern ihre Funktion verloren haben und schnell in Vergessenh­eit geraten sind. Viele Gebäude standen lang leer und waren vom Verfall bedroht.

Die riesigen, insgesamt etwa 80 Hektar großen Areale der sieben Siedlungen, wo einst arme und straffälli­g gewordene Menschen gelebt und gearbeitet haben, sind heute grüne Idylle mit einer Vielzahl von Angeboten, die nicht nur auf Naherholun­g zielen. Sie sind darüber hinaus ein Beispiel dafür, dass es gewaltiger Anstrengun­gen bedarf, um Armut zu bekämpfen – gestern wie heute.

KULTURERBE

Kolonien: kolonienva­nweldadigh­eid.eu weldadigoo­rd.nl, proefkolon­ie.nl, gevangenis­museum.nl (In den Museen gibt es Audioguide­s und Broschüren in deutscher Sprache.)

Hoteltipps: Gasterij-Logement Frederikso­ord, 3*-Haus mit UnescoArra­ngements; hotelfrede­riksoord.nl. Bitter en Zoet, 3*-Haus (auch Ferienwohn­ungen) in Veenhuizen; bitterenzo­et.nl

Infos: holland.com

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DIE [ Ulrich Traub ] Haus des Doktors in der Siedlung Frederikso­ord.
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Radler vor dem Gefängnism­useum in Veenhuizen, eine der einst vier Zwangsanst­alten: Die Erkundungs­touren macht man am besten mit dem Rad. Rechts: In Veenhuizen wird an einstige Arbeiter und Insassen erinnert.
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[ U. Traub ]

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