Auf Israel kommen stürmische Zeiten zu
Der Judenstaat könnte für Benjamin Netanjahus neue Koalition einen hohen Preis zahlen – und der Premier zum Getriebenen der Extremisten werden.
So viel Kritik musste noch kaum eine Regierung vor ihrer Angelobung einstecken – und Benjamin Netanjahu ist daran wahrlich gewöhnt. Dass die Palästinenser seine rechtsnationalistische Koalition – eine Premiere in der 75-jährigen Geschichte Israels – verbal unter Beschuss nahmen, wäre noch keine Überraschung. Das Programm der neuen Regierung in Jerusalem weckt angesichts der Kompetenzen und des Zugriffsrechts für die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotnich – zwei Aktivisten der Siedlerbewegung, die sich als „Herren im Haus“sehen – auf das Westjordanland freilich berechtigte Sorgen um eine Eskalation der ohnehin angespannten Lage.
Die Regierungsleitlinien schreiben ein „alleiniges und unumstößliches Recht des jüdischen Volks auf alle Teile Israels“, also auch auf die Palästinensergebiete, fest. Dies könnte eine mögliche Annexion legitimieren, sollten die Palästinenser den Ausbau der jüdischen Siedlungen in Ostjerusalem und im Westjordanland zum Anlass für eine Intifada nehmen. Die Expansion der Siedlungen ist ein deklariertes Ziel der neuen Regierung und eine Konzession Netanjahus an die beiden radikalen Minister, die auf spezielle Befugnisse für die Militär- und Zivilverwaltung im Westjordanland pochten und dies durch ein eigenes Gesetz absichern ließen.
Es zeigt zugleich, wie wenig die neuen Partner am rechten Rand Netanjahus Wort trauen. Israels am längsten amtierender Premier hat bis dato noch all seine Juniorpartner mit seinen Finten ausgetrickst. Auf großes Vertrauen ist diese Koalition nicht gebaut. Indiz dafür ist die lange Regierungsbildung, für die der Routinier die Frist fast bis zur letzten Minute ausgeschöpft hat. Dabei hat er nach einer Serie von fünf Wahlen in dreieinhalb Jahren geschworen, zügig ans Werk zu gehen.
Nach dem Experiment einer Acht-Parteien-Koalition, die vor allem die Abneigung gegen den Langzeit-Premier zusammengehalten hat, löst Netanjahus neue Rechtsregierung aber nicht nur in Ramallah und Amman Angst und Schrecken aus, sondern auch bei den Verbündeten in Washington. Hinter den Kulissen hat die Biden-Regierung Netanjahu gedrängt, die Sicherheitspolitik nicht den Extremisten zu überlassen. Dies verhinderte zumindest die Nominierung BenGvirs zum Verteidigungsminister. Dem vorbestraften Chef der Partei Jüdische Stärke bleibt immer noch das Schlüsselressort der nationalen Sicherheit.
Die Vorbehalte gegen Netanjahus Koalition aus Extremisten und Ultraorthodoxen gehen tief – und sie kommen von liberalen jüdischen Verbänden in Israel und den USA über die Wirtschaftslobby im Land bis zu Präsident Jitzhak Herzog. Fürchten die einen einen Imageschaden und eine Dämpfung des Aufschwungs, so malen die anderen eine Aushöhlung der demokratischen und ethischen Prinzipien des Judenstaats an die Wand – eine Stärkung der Ultraorthodoxen, eine Benachteiligung von Minderheiten und eine Schwächung der Justiz und ihrer obersten Instanz. Dass Aryeh Deri, der wegen Steuerbetrugs und Korruption verurteilte Chef der ShasPartei, erst zum Gesundheitsminister und danach im Zuge einer Rochade zum Finanzminister avanciert, gilt als Präjudiz für Netanjahu, der selbst wegen Korruption unter Anklage steht.
Der Regierungschef rückte bereits vor der Vereidigung in der Knesset aus, um alle Bedenken zu zerstreuen und zu signalisieren: Ich habe alles im Griff. „Sie (die Koalitionspartner) schließen sich mir an, nicht ich mich ihnen.“Dass nun just der Chef der konservativen Likud-Partei der moderateste Politiker der Regierung ist, sagt alles über ihre Zusammensetzung aus – und wie sehr und um welchen Preis er sich an die Macht klammert. Der Premier, den seine Fans als „König Bibi“titulieren, dem sie die Fähigkeiten eines Magiers zuschreiben, könnte indes vielmehr zum Getriebenen der radikalen Kräfte werden.
Auf Israel kommen stürmische Zeiten zu, innenpolitisch vielleicht mehr als außenpolitisch. Die Prognosen, dass die neue Regierung länger im Amt ist als die vorige – rund eineinhalb Jahre – stehen eher schlecht. Für Israel wäre dies wahrscheinlich aber eine gute Nachricht.