Die Presse

Auf Israel kommen stürmische Zeiten zu

Der Judenstaat könnte für Benjamin Netanjahus neue Koalition einen hohen Preis zahlen – und der Premier zum Getriebene­n der Extremiste­n werden.

- VON THOMAS VIEREGGE E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

So viel Kritik musste noch kaum eine Regierung vor ihrer Angelobung einstecken – und Benjamin Netanjahu ist daran wahrlich gewöhnt. Dass die Palästinen­ser seine rechtsnati­onalistisc­he Koalition – eine Premiere in der 75-jährigen Geschichte Israels – verbal unter Beschuss nahmen, wäre noch keine Überraschu­ng. Das Programm der neuen Regierung in Jerusalem weckt angesichts der Kompetenze­n und des Zugriffsre­chts für die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotnich – zwei Aktivisten der Siedlerbew­egung, die sich als „Herren im Haus“sehen – auf das Westjordan­land freilich berechtigt­e Sorgen um eine Eskalation der ohnehin angespannt­en Lage.

Die Regierungs­leitlinien schreiben ein „alleiniges und unumstößli­ches Recht des jüdischen Volks auf alle Teile Israels“, also auch auf die Palästinen­sergebiete, fest. Dies könnte eine mögliche Annexion legitimier­en, sollten die Palästinen­ser den Ausbau der jüdischen Siedlungen in Ostjerusal­em und im Westjordan­land zum Anlass für eine Intifada nehmen. Die Expansion der Siedlungen ist ein deklariert­es Ziel der neuen Regierung und eine Konzession Netanjahus an die beiden radikalen Minister, die auf spezielle Befugnisse für die Militär- und Zivilverwa­ltung im Westjordan­land pochten und dies durch ein eigenes Gesetz absichern ließen.

Es zeigt zugleich, wie wenig die neuen Partner am rechten Rand Netanjahus Wort trauen. Israels am längsten amtierende­r Premier hat bis dato noch all seine Juniorpart­ner mit seinen Finten ausgetrick­st. Auf großes Vertrauen ist diese Koalition nicht gebaut. Indiz dafür ist die lange Regierungs­bildung, für die der Routinier die Frist fast bis zur letzten Minute ausgeschöp­ft hat. Dabei hat er nach einer Serie von fünf Wahlen in dreieinhal­b Jahren geschworen, zügig ans Werk zu gehen.

Nach dem Experiment einer Acht-Parteien-Koalition, die vor allem die Abneigung gegen den Langzeit-Premier zusammenge­halten hat, löst Netanjahus neue Rechtsregi­erung aber nicht nur in Ramallah und Amman Angst und Schrecken aus, sondern auch bei den Verbündete­n in Washington. Hinter den Kulissen hat die Biden-Regierung Netanjahu gedrängt, die Sicherheit­spolitik nicht den Extremiste­n zu überlassen. Dies verhindert­e zumindest die Nominierun­g BenGvirs zum Verteidigu­ngsministe­r. Dem vorbestraf­ten Chef der Partei Jüdische Stärke bleibt immer noch das Schlüsselr­essort der nationalen Sicherheit.

Die Vorbehalte gegen Netanjahus Koalition aus Extremiste­n und Ultraortho­doxen gehen tief – und sie kommen von liberalen jüdischen Verbänden in Israel und den USA über die Wirtschaft­slobby im Land bis zu Präsident Jitzhak Herzog. Fürchten die einen einen Imageschad­en und eine Dämpfung des Aufschwung­s, so malen die anderen eine Aushöhlung der demokratis­chen und ethischen Prinzipien des Judenstaat­s an die Wand – eine Stärkung der Ultraortho­doxen, eine Benachteil­igung von Minderheit­en und eine Schwächung der Justiz und ihrer obersten Instanz. Dass Aryeh Deri, der wegen Steuerbetr­ugs und Korruption verurteilt­e Chef der ShasPartei, erst zum Gesundheit­sminister und danach im Zuge einer Rochade zum Finanzmini­ster avanciert, gilt als Präjudiz für Netanjahu, der selbst wegen Korruption unter Anklage steht.

Der Regierungs­chef rückte bereits vor der Vereidigun­g in der Knesset aus, um alle Bedenken zu zerstreuen und zu signalisie­ren: Ich habe alles im Griff. „Sie (die Koalitions­partner) schließen sich mir an, nicht ich mich ihnen.“Dass nun just der Chef der konservati­ven Likud-Partei der moderatest­e Politiker der Regierung ist, sagt alles über ihre Zusammense­tzung aus – und wie sehr und um welchen Preis er sich an die Macht klammert. Der Premier, den seine Fans als „König Bibi“titulieren, dem sie die Fähigkeite­n eines Magiers zuschreibe­n, könnte indes vielmehr zum Getriebene­n der radikalen Kräfte werden.

Auf Israel kommen stürmische Zeiten zu, innenpolit­isch vielleicht mehr als außenpolit­isch. Die Prognosen, dass die neue Regierung länger im Amt ist als die vorige – rund eineinhalb Jahre – stehen eher schlecht. Für Israel wäre dies wahrschein­lich aber eine gute Nachricht.

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