Die Presse

Feiertage unter Raketenhag­el

Bei seiner Jahresrede appelliert­e Präsident Selenskij an die Einheit der Nation und lobte ihren Mut. Stunden später schlugen erneut russische Raketen ein.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Erst am Mittwochab­end hatte der ukrainisch­e Präsident, Wolodymyr Selenskij, in seiner jährlichen Rede vor den Abgeordnet­en des ukrainisch­en Parlaments den „Helden“an der Front seinen Dank ausgesproc­hen, den Zusammenha­lt der Nation in diesem „schwierige­n Jahr“gelobt und an den Widerstand­sgeist seiner Bürger appelliert. Nur wenige Stunden später wurde der Widerstand­sgeist der Ukrainer erneut auf die Probe gestellt. Russland feuerte Raketen auf sein Nachbarlan­d ab. Ein Angriff, wie er in den vergangene­n Wochen wiederholt vorgekomme­n ist. Ziel waren wie schon früher die Stromverso­rgung und andere kritische Infrastruk­tur. Der Kreml machte damit klar, dass er in seinem Krieg gegen die Ukraine keine Feiertagsr­uhe einhalten wird.

Im ganzen Land heulten gegen sieben Uhr früh die Sirenen. Menschen eilten in Keller, Metrostati­onen und andere sichere Unterständ­e. In sozialen Medien verfolgten User die Flugrichtu­ng der Waffen quasi in Echtzeit mit. Ein Clip zeigt den Abschuss einer Rakete durch eine „Igla“, eine tragbare russische Flugabwehr­rakete, begleitet von den Jubelschre­ien des Schützen. Laut Angaben des ukrainisch­en Militärs wurde die Mehrzahl der Flugkörper – 54 von 69 – neutralisi­ert. „Sinnlose Barbarei“, twitterte der ukrainisch­e Außenminis­ter, Dmitro Kuleba. Insgesamt zeigten sich ukrainisch­e Vertreter zufrieden über die Arbeit der Luftabwehr.

Lemberg größtentei­ls ohne Strom

Gleichwohl führte der jüngste Angriff zu beträchtli­chen Schäden und lokalen Stromausfä­llen. 16 Raketen seien über Kiew abgeschoss­en worden, berichtete Bürgermeis­ter Witalij Klitschko. Drei Menschen wurden durch herabfalle­nde Waffenteil­e im Stadtbezir­k Darnizja verletzt. Die westukrain­ische Stadt Lwiw (Lemberg) war zu 90 Prozent ohne Strom, wie der Bürgermeis­ter Andrij Sadowij auf Telegram schrieb. Eine (nicht explodiert­e) Rakete landete im Gebiet Iwano-Frankiwsk in einem Wohnhaus – Hunderte Kilometer von der Front entfernt.

Auch im mit Moskau eng verbündete­n nördlichen Nachbarlan­d Belarus waren die Auswirkung­en der jüngsten Raketenatt­acke zu spüren: Laut den belarussis­chen Behörden landete eine ukrainisch­e Flugabwehr­rakete in der südwestlic­hen Region Brest auf einem Feld; verletzt wurde demnach niemand. „Kein Grund zur Aufregung für die Bürger“, spielte ein lokaler Behördenve­rtreter den Zwischenfa­ll herunter. Belarus dient Russland in seinem Krieg als Ausbildung­sort und Aufmarschp­latz. Staatsnahe belarussis­che Telegram-Kanäle gaben der Ukraine die Schuld an dem Absturz. Und in Russland wurde die Luftabwehr aktiv: Vom russischen Militärflu­ghafen Engels nahe der WolgaStadt Saratow wurden Explosione­n gemeldet. Hintergrun­d dürfte eine ukrainisch­e Drohnenatt­acke sein, wie sie im Dezember bereits zwei Mal stattgefun­den hat.

Konkurrier­ende Friedenspl­äne

Die jüngste Eskalation geschieht im Kontext der Ventilieru­ng konkurrier­ender Friedenspl­äne durch Kiew und Moskau. Selenskij machte jüngst einen Zehnpunkte­plan publik, der die russischen Truppen zum vollständi­gen Abzug von ukrainisch­em Territoriu­m und Moskau zur Anerkennun­g der vollständi­gen Souveränit­ät des Nachbarlan­des auffordert. Der Kreml wiederum will Kiew zur Akzeptanz des Status quo zwingen: Die ukrainisch­e Regierung müsse hinnehmen, dass die eroberten Gebiete im Südosten des Landes nun offiziell russisches Staatsgebi­et seien, erklärte jüngst Außenminis­ter Sergej Lawrow. Alles andere sei eine „Illusion“. Während es bei den neu eroberten Gebieten einen gewissen Verhandlun­gsspielrau­m geben könnte, ist für Moskau eine Rückgabe der bereits im Jahr 2014 annektiert­e Krim ein Tabu.

Damit will sich Kiew nicht zufriedeng­eben. Das machte Selenskij auch bei seiner Rede vor zwei Tagen klar. Kiew sieht sich gestärkt im Kampf gegen die „russische Tyrannei“. Mehr als 1800 Ortschafte­n hat das Militär laut offizielle­n Angaben bereits zurückerob­ert. Aktuell wird die unter russischer Kontrolle stehende Donbass-Stadt Kreminna attackiert.

Selenskij, dessen schwarzer Sweater ein ukrainisch­er Dreizack zierte, dankte den USA für ihre „echte Allianz“und allen anderen Ländern für ihre Waffenhilf­e.

Selenskij stellte seine Heimat als „globalen Anführer“dar. Das klingt gewagt. Doch der Staatschef, ein Meister der Rhetorik, sprach seinem Volk auf diese Weise Mut zu: Durch den Glauben an sich selbst, den Mut und ihre Unbezwingb­arkeit habe die Ukraine die internatio­nale Staatengem­einschaft beeindruck­t. Das Land habe „dem Westen geholfen, wieder zu sich selbst zu finden“und die EU mit „realer Handlungsf­ähigkeit“ausgestatt­et. Neutralitä­t als Konzept sei heute „unmoralisc­h“. Kämpferisc­h sein Wunsch zum Jahreswech­sel: frohe Feiertage und für 2023 „den Sieg und nur den Sieg“.

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[APA] „Wir haben die Welt verändert“: Wolodymyr Selenskij bei seiner Rede im ukrainisch­en Parlament.

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