Wie China Europas Industrie im Griff hat
Gegen die Abhängigkeit Europas von chinesischen Rohstoffen und Vorprodukten ist die Russengas-Krise eine Kleinigkeit. Ein Problem, um das sich die Wirtschaftspolitik stärker kümmern sollte. Denn die Spannungen nehmen zu.
Am 24. Februar dieses Jahres fielen russische Militärverbände im Nachbarland Ukraine ein. Die Folgen kennen wir: Ein schon seit Monaten anhaltender schrecklicher Krieg und in der Folge Sanktionen gegen Moskau, die zu einer weitgehenden Unterbrechung russischer Energielieferungen in die EU führten. Das hat zu einer sehr ernsten Situation in der europäischen Energieversorgung geführt. Denn die Gemeinschaft war in ihrer Erdgasversorgung zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs zu fast 50 Prozent von russischen Lieferungen abhängig. Österreich unverantwortlicherweise sogar zu 80 Prozent.
Seither ist die Gefahr, die für entwickelte Volkswirtschaften von zu großen Abhängigkeiten von einzelnen Lieferländern ausgeht, stark ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Und dort wird sie wohl auch bleiben. Denn am Horizont zeigt sich ein Problem, gegen das die aktuellen Energieturbulenzen wie ein Kindergeburtstag aussehen: die Abhängigkeit von China.
Die ist um ein Vielfaches höher als jene von Russland. Und nicht weniger heikel. Denn auch das Reich der Mitte steht zunehmend im Mittelpunkt geopolitischer Spannungen. Das Säbelrasseln um die von Peking angestrebte militärische „Heimholung“von Taiwan wird jedenfalls immer lauter. Was, wenn China im kommenden Jahr wirklich in Taiwan einmarschiert? Können die USA und Europa dann ähnlich mit Sanktionen reagieren wie im Fall Russlands?
„Die Chinesen“, wird die deutsche Pharma-Professorin Ulrike Holzgraber in der „Wirtschaftswoche“zitiert, „brauchen gar keine Atombombe. Es reicht, wenn sie keine Antibiotika mehr liefern.“Tatsächlich hat sich die westliche Welt aus Kostengründen bei Medikamentengrundstoffen in eine geradezu abenteuerliche Abhängigkeit von China begeben. Zwei Drittel aller Generika kommen aus China und Indien.
Ein Ausweichen auf den Generika-Großhersteller Indien ist aber keine Alternative, weil auch die Inder 70 Prozent ihrer GenerikaGrundstoffe aus China beziehen. Beim gängigen Schmerzmittel Ibuprofen beträgt die Abhängigkeit von China sogar 95 Prozent. Folgerichtig hat es für die derzeitige Medikamentenknappheit gar keiner großen geopolitischen Eskalation bedurft: Erhöhter Eigenbedarf in China selbst hat ausgereicht, um wichtige Medikamente in anderen Weltgegenden knapp zu machen.
Medikamente sind zwar ein wichtiger, aber beileibe nicht der einzige Sektor mit viel zu hoher Abhängigkeit. Nach einer Studie des Münchener Ifo-Instituts hängt etwa die deutsche Autoindustrie zu 75,8 Prozent an Vorleistungen aus China. Bei elektrischer Ausrüstung sind es 70 Prozent.
Noch krasser sieht es bei wichtigen Rohstoffen für die Produktion von Schlüsseltechnologien in Europa aus: 65 Prozent der Rohstoffe für die Herstellung von Elektromotoren, 54 Prozent jener für die Erzeugung von Windturbinen und 53 Prozent jener für Fotovoltaik kommen aus China. Per Wirtschaftssanktionen könnte die gesamte europäische Energiewende zum Stillstand gebracht werden.
Und das wird möglicherweise bald noch viel krasser. Laut dem „Energy Transition Outlook“von Bloomberg NEF muss die globale Produktion von Kupfer, Grafit, Lithium, Nickel und seltenen Erden versechsfacht werden, um die europäischen „Zero Emission“-Pläne bis 2050 zu realisieren. Europa ist hier praktisch zu 100 Prozent importabhängig. Bei Nickel, Grafit, Lithium und seltenen Erden ist die Abhängigkeit von China jetzt schon sehr hoch.
Eine abrupte Abkopplung von dieser Quelle brächte, wie die IfoExperten sehr vorsichtig formulieren, „große Probleme in den Lieferketten“. In der Praxis ist sie einfach nicht machbar.
Die Experten empfehlen, sich jetzt stark auf Diversifizierung der Bezugsquellen zu konzentrieren. Das ist in den meisten Fällen grundsätzlich machbar, wenngleich bei Rohstoffen schwieriger als bei Fertigprodukten. Es ist aber eine Kostenfrage. Die Produktion von Vorprodukten ist ja nicht ohne Grund ausgelagert worden.
Die Unternehmen selbst fahren vielfach schon solche Diversifizierungsstrategien, die teilweise auf der Rückholung von Produktionen nach Europa, teilweise auf der verstärkten Suche nach anderen Bezugsquellen basieren. Sie brauchen dafür aber auch staatliche Hilfe, vor allem auf EU-Ebene. Etwa in Form von Handelsabkommen mit rohstoffreichen Entwicklungsländern und eines bestimmteren Auftretens gegenüber China. Denn ganz so einseitig ist die Abhängigkeit auch wieder nicht: Die EU als Ganzes ist auch ein wichtiger Lieferant für China. Vor allem auch für Vormaterialien. Einzelstaaten, selbst wirtschaftlich potente wie Deutschland, sind aber zu schwach, um China auf Augenhöhe entgegenzutreten.
Und natürlich braucht es für eine Verringerung der Abhängigkeit auch interne Weichenstellungen. Etwa für viel stärkeres Recycling. Und ebenso für eine verstärkte eigene Rohstoffproduktion. Bei Lithium etwa hat Europa durchaus große eigene Vorkommen. Eines sogar im österreichischen Koralmgebiet.
Trotzdem werden derzeit 100 Prozent des benötigten Lithiums importiert. Der Abbau in Europa scheitert oft nicht nur an höheren Kosten, sondern auch an hohen Umweltstandards. Es ist ein bisschen so wie beim Gas: Da werden in Österreich und Deutschland große Lager im Boden gelassen, weil sie nur per Fracking gewonnen werden könnten. Im Gegenzug importiert man extrem teures Fracking-Gas aus den USA.
Da werden wohl einige über ihren Schatten springen müssen. Denn einfach ist die Verringerung einer zu großen Abhängigkeit von China nicht. Und mit Einzelmaßnahmen ist sie nicht zu schaffen. Aber mit forcierter Bezugsquellendiversifizierung, eigener Produktion und verstärkter Kreislaufwirtschaft ist sie wenigstens erträglich zu gestalten. Darauf sollte sich europäische Wirtschaftspolitik jetzt konzentrieren. Damit sich das Russengas-Desaster nicht wiederholt.