Diese Romanze lacht dem Tod ins Gesicht
Kann man eine Affäre beginnen, wenn der Vater an Demenz erkrankt ist? Muss man vielleicht sogar? Mia Hansen-Løves neuer Film mit Léa Seydoux sagt: Ja!
Dass Mia Hansen-Løves Filmdrama „An einem schönen Morgen“auch um die Weihnachtszeit spielt, bekommt man als Zuschauer fast nicht mit. Zwar zeugen die Hauben und Schals der Figuren davon, dass es wintert; trotzdem bleibt die Glitzerdekoration, die sich im Hintergrund des Geschehens immer weiter auswächst, lang leicht zu übersehen. Das unterscheidet die Filme der 41-jährigen Französin von vielen anderen: Der Lauf der Dinge wird hier nie künstlich überbetont, um seine Funktion in der Fiktion zu unterstreichen.
Weihnachten ist also kein mit glänzendem Christbaum angekündigter Plotpunkt, der alle Konflikte im seligen Punschdampf auflöst. Weihnachten ist nur ein Fest, das jedes Jahr im Dezember gefeiert wird. Und weil „An einem schönen Morgen“teils im Dezember spielt, findet Weihnachten im Film statt, während die Haupthandlung weiterläuft. Während die Dolmetscherin Sandra (Léa Seydoux) eine Affäre hat. Während ihre Tochter mit ärgerlichen Wachstumsschmerzen ringt. Während ihr Vater unaufhaltsam einer neurodegenerativen Krankheit erliegt.
Das Leben spielt in Hansen-Løves meist autobiografisch grundierten Filmen, wie es eben so spielt: Zwecklos, sich seinem ebenso gnadenlosen wie berauschenden (und oft befreienden) Fluss zu widersetzen. Schon seit ihrem zum Teil in Wien situierten Debüt „Tout est pardonné “(2007) bleibt „panta rhei“die Devise der produktiven und längst dramaturgisch beschlagenen Autorenfilmerin.
Auch ihre jüngste Arbeit, heuer im Mai in Cannes uraufgeführt, folgt einem unablässigen Vorwärtsdrall, gleichwohl die zentrale Triebfeder der Erzählung eine negative ist: Der schon erwähnte schleichende Bewusstseinsverlust des Vaters der Protagonistin (Pascal Greggory). In der ersten Szene klopft Sandra besorgt an seine Tür, bittet ihn, aufzumachen. Doch obwohl der Schlüssel wie stets im Schloss steckt, findet er ihn nicht – so schlecht sind schon Augenlicht und Gedächtnis des ehemaligen Philosophieprofessors Georg. Immer wieder versucht die Tochter, ein Gespräch wie früher mit ihm zu führen. Immer wieder scheitert sie dabei – und kämpft dann vergeblich mit den Tränen.
Es hilft nichts: Das Leben muss weitergehen. Vorträge müssen übersetzt, die junge Linn (Camille Leban Martins) von der alleinerziehenden Mittdreißigerin zur Schule und zum Fechtunterricht gebracht werden.
Zudem pocht Sandras von Georg geschiedene Mutter Françoise (forsch: Nicole Garcia) darauf, ihren Exmann endlich in ein Pflegeheim zu überführen, da er längst nicht mehr für sich selbst sorgen kann. Die Suche nach einer geeigneten Unterkunft in Paris gestaltet sich alles andere als leicht – die Akademikerrente reicht nur für Einrichtungen, die wirken wie triste Sterbebaracken.
Das Leben? Lauter Zwischenstationen!
So flicht Hansen-Løve, die in „Un beau matin“auch den Tod ihres eigenen Vaters verarbeitet, beiläufige Sozialkritik in die zutiefst persönliche Geschichte ein. Und findet bei aller Schwermut (für die hier nie wirklich Zeit zu sein scheint) auch Raum für eine typisch französische Kinoromanze, als mit Clément (Melvil Poupaud) ein alter Freund in Sandras Leben tritt. Nach kurzer Inkubation stürzt sich die Liebesbedürftige in eine Liaison mit dem aufschneiderischen Kosmochemiker, der sich im Hinblick auf die Fortführung bzw. den Abbruch seiner bestehenden Ehe abtörnend wankelmütig gibt.
Star Seydoux, mit goldbraunem Bubikopf und großteils in unscheinbarer Durchschnittsgarderobe, vermittelt gekonnt die inneren Turbulenzen einer von widerstreitenden Gefühlen heimgesuchten Frau im Sturm des Alltags. Zeit zum Nachdenken und -fühlen bieten ihr fast nur regelmäßige Bus- und Bahnfahrten. Das passt: In Hansen-Løves Welt gibt es bloß Zwischenstationen.
Vielleicht wirkt sie genau deshalb so lebendig, so satt an markanten, wirklichkeitsnahen Details, so flirrend wie das Licht, das im Sommerpart von „An einem schönen Morgen“draußen in den Blättern tanzt – und bei allen Schicksalsschlägen so beherzt wie das Festtagstheater, das Sandras Familie zu Weihnachten für die Kinder aufführt.