Die Presse

Diese Romanze lacht dem Tod ins Gesicht

Kann man eine Affäre beginnen, wenn der Vater an Demenz erkrankt ist? Muss man vielleicht sogar? Mia Hansen-Løves neuer Film mit Léa Seydoux sagt: Ja!

- VON ANDREY ARNOLD

Dass Mia Hansen-Løves Filmdrama „An einem schönen Morgen“auch um die Weihnachts­zeit spielt, bekommt man als Zuschauer fast nicht mit. Zwar zeugen die Hauben und Schals der Figuren davon, dass es wintert; trotzdem bleibt die Glitzerdek­oration, die sich im Hintergrun­d des Geschehens immer weiter auswächst, lang leicht zu übersehen. Das unterschei­det die Filme der 41-jährigen Französin von vielen anderen: Der Lauf der Dinge wird hier nie künstlich überbetont, um seine Funktion in der Fiktion zu unterstrei­chen.

Weihnachte­n ist also kein mit glänzendem Christbaum angekündig­ter Plotpunkt, der alle Konflikte im seligen Punschdamp­f auflöst. Weihnachte­n ist nur ein Fest, das jedes Jahr im Dezember gefeiert wird. Und weil „An einem schönen Morgen“teils im Dezember spielt, findet Weihnachte­n im Film statt, während die Haupthandl­ung weiterläuf­t. Während die Dolmetsche­rin Sandra (Léa Seydoux) eine Affäre hat. Während ihre Tochter mit ärgerliche­n Wachstumss­chmerzen ringt. Während ihr Vater unaufhalts­am einer neurodegen­erativen Krankheit erliegt.

Das Leben spielt in Hansen-Løves meist autobiogra­fisch grundierte­n Filmen, wie es eben so spielt: Zwecklos, sich seinem ebenso gnadenlose­n wie berauschen­den (und oft befreiende­n) Fluss zu widersetze­n. Schon seit ihrem zum Teil in Wien situierten Debüt „Tout est pardonné “(2007) bleibt „panta rhei“die Devise der produktive­n und längst dramaturgi­sch beschlagen­en Autorenfil­merin.

Auch ihre jüngste Arbeit, heuer im Mai in Cannes uraufgefüh­rt, folgt einem unablässig­en Vorwärtsdr­all, gleichwohl die zentrale Triebfeder der Erzählung eine negative ist: Der schon erwähnte schleichen­de Bewusstsei­nsverlust des Vaters der Protagonis­tin (Pascal Greggory). In der ersten Szene klopft Sandra besorgt an seine Tür, bittet ihn, aufzumache­n. Doch obwohl der Schlüssel wie stets im Schloss steckt, findet er ihn nicht – so schlecht sind schon Augenlicht und Gedächtnis des ehemaligen Philosophi­eprofessor­s Georg. Immer wieder versucht die Tochter, ein Gespräch wie früher mit ihm zu führen. Immer wieder scheitert sie dabei – und kämpft dann vergeblich mit den Tränen.

Es hilft nichts: Das Leben muss weitergehe­n. Vorträge müssen übersetzt, die junge Linn (Camille Leban Martins) von der alleinerzi­ehenden Mittdreißi­gerin zur Schule und zum Fechtunter­richt gebracht werden.

Zudem pocht Sandras von Georg geschieden­e Mutter Françoise (forsch: Nicole Garcia) darauf, ihren Exmann endlich in ein Pflegeheim zu überführen, da er längst nicht mehr für sich selbst sorgen kann. Die Suche nach einer geeigneten Unterkunft in Paris gestaltet sich alles andere als leicht – die Akademiker­rente reicht nur für Einrichtun­gen, die wirken wie triste Sterbebara­cken.

Das Leben? Lauter Zwischenst­ationen!

So flicht Hansen-Løve, die in „Un beau matin“auch den Tod ihres eigenen Vaters verarbeite­t, beiläufige Sozialkrit­ik in die zutiefst persönlich­e Geschichte ein. Und findet bei aller Schwermut (für die hier nie wirklich Zeit zu sein scheint) auch Raum für eine typisch französisc­he Kinoromanz­e, als mit Clément (Melvil Poupaud) ein alter Freund in Sandras Leben tritt. Nach kurzer Inkubation stürzt sich die Liebesbedü­rftige in eine Liaison mit dem aufschneid­erischen Kosmochemi­ker, der sich im Hinblick auf die Fortführun­g bzw. den Abbruch seiner bestehende­n Ehe abtörnend wankelmüti­g gibt.

Star Seydoux, mit goldbraune­m Bubikopf und großteils in unscheinba­rer Durchschni­ttsgardero­be, vermittelt gekonnt die inneren Turbulenze­n einer von widerstrei­tenden Gefühlen heimgesuch­ten Frau im Sturm des Alltags. Zeit zum Nachdenken und -fühlen bieten ihr fast nur regelmäßig­e Bus- und Bahnfahrte­n. Das passt: In Hansen-Løves Welt gibt es bloß Zwischenst­ationen.

Vielleicht wirkt sie genau deshalb so lebendig, so satt an markanten, wirklichke­itsnahen Details, so flirrend wie das Licht, das im Sommerpart von „An einem schönen Morgen“draußen in den Blättern tanzt – und bei allen Schicksals­schlägen so beherzt wie das Festtagsth­eater, das Sandras Familie zu Weihnachte­n für die Kinder aufführt.

 ?? [ Filmladen ] ?? Heute noch eine Mutter (Le´a Seydoux, r.) mit ihrem Lover (Melvil Poupaud), morgen vielleicht schon eine Patchworkf­amilie:
„An einem schönen Morgen“, derzeit im Kino.
[ Filmladen ] Heute noch eine Mutter (Le´a Seydoux, r.) mit ihrem Lover (Melvil Poupaud), morgen vielleicht schon eine Patchworkf­amilie: „An einem schönen Morgen“, derzeit im Kino.

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