Er hielt den Glauben für vernünftig
In seinem geistlichen Testament skizzierte Benedikt XVI. noch einmal sein Verhältnis zur Wissenschaft: „Scheinbare Gewissheiten gegen den Glauben“seien „dahingeschmolzen“.
Am letzten Tag des Jahres 2022, nur Stunden nach dem Tod von Papst Benedikt XVI., veröffentlichte der Vatikan das geistliche Testament des emeritierten Kirchenoberhaupts. Schnell kam es in die Medien, oft zitiert wurde besonders ein Satz: „Alle, denen ich irgendwie Unrecht getan habe, bitte ich von Herzen um Verzeihung.“
Die Versuchung liegt nahe, das auf die Vertuschung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche hin zu deuten. Doch Benedikt XVI. hat diesen Text schon am 29. August 2006 verfasst, in seinem zweiten Jahr als Papst also. In dem kaum eine Druckseite langen Stück finden sich aber Formulierungen, die für seinen Zugang zur Theologie ganz typisch sind.
„Wille zur Rationalität“
Vor allem die Denkfigur von der „Vernunft des Glaubens“. Es war seine Überzeugung, dass der Glaube selbst vernünftig sei. Mehr noch: dass er der Aufklärung – wie er sie verstand – nicht widerspreche. Schon 1992 hatte Joseph Ratzinger bei den Salzburger Hochschulwochen gesagt, dass der christliche Glaube „Aufklärung und Religion nicht getrennt, nicht gegeneinander gesetzt, sondern als ein Gefüge zusammengebunden hat“; der „Wille zur Rationalität“gehöre zum Wesen des Christentums. Wer meinte, dass diese Betonung der Vernunft eher zu den protestantischen Kirchen passe, vergisst, dass etwa Luther die Vernunft wenig schätzte, einmal gar als „Hure des Teufels“bezeichnete. Und in lutherischen, nicht katholischen Gottesdiensten wird mit den Worten aus dem Philipperbrief gesegnet: „Und der Frieden Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus.“
Ganz anders als Ratzinger spricht sein Amtsnachfolger Franziskus über die Vernunft. Er trennt sie vom Glauben, stellt sie diesem gegenüber: „Der Glaube hat keine Angst vor der Vernunft“, heißt es in seinem ersten apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“. Und: Der Glaube erhebe „den Menschen bis zum Mysterium, das die Natur und die menschliche Intelligenz übersteigt“.
Beide Päpste bekannten sich freilich zum Dialog mit der Wissenschaft. Doch Benedikt XVI. führte diesen Dialog heftig, ja: streitbar. „Ich habe von Weitem die Wandlungen der Naturwissenschaft miterlebt“, schreibt er im Testament, „und sehen können, wie scheinbare Gewissheiten gegen den Glauben dahinschmolzen, sich nicht als Wissenschaft, sondern als nur scheinbar der Wissenschaft zugehörige philosophische Interpretationen erwiesen – wie freilich auch der Glaube im Dialog mit den Naturwissenschaften die Grenze der Reichweite seiner Aussagen und so sein Eigentliches besser verstehen lernte.“
„Rationalität der Materie“
Da wüsste man gern: Welche „scheinbaren Gewissheiten gegen den Glauben“meinte Ratzinger da? Interpretationen des Darwinismus? „Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution“, predigte er schon bei seiner Amtseinführung als Papst.
Oder meinte er Ausritte von Physikern in die Metaphysik? Benedikt interpretierte selbst gern die Natur. „Es gibt eine Rationalität der Materie an sich“, erklärte er 2006 in Castelgandolfo: „Man kann sie lesen. Sie hat eine Mathematik in sich, sie ist selbst vernünftig, selbst wenn es auf dem langen Weg der Evolution Irrationales, Chaotisches und Zerstörerisches gibt.“
Doch mindestens genauso wichtig war ihm die – diesfalls ganz offen streitbare – Auseinandersetzung mit Geisteswissenschaften, vor allem der historischkritischen Bibelexegese. In seinem Testament steht: „Oft sieht es aus, als ob die Wissenschaft – auf der einen Seite die Naturwissenschaften, auf der anderen Seite die Geschichtsforschung (besonders die Exegese der Heiligen Schriften) – unwiderlegbare Einsichten vorzuweisen hätten, die dem katholischen Glauben entgegenstünden.“
„Gewirr der Hypothesen“
Sein Resümee – wie gesagt, gezogen schon 2006 – klingt fast triumphierend: „Seit 60 Jahren begleite ich nun den Weg der Theologie, besonders auch der Bibelwissenschaften, und habe mit den wechselnden Generationen unerschütterlich scheinende Thesen zusammenbrechen sehen, die sich als bloße Hypothesen erwiesen: die liberale Generation (Harnack, Jülicher usw.), die existenzialistische Generation (Bultmann usw.), die marxistische Generation. Ich habe gesehen und sehe, wie aus dem Gewirr der Hypothesen wieder neu die Vernunft des Glaubens hervorgetreten ist und hervortritt.“
Das entspricht dem Tenor seines Buchs „Jesus von Nazareth“, in dem Ratzinger die historisch-kritische Exegese in die Schranken weisen wollte: Sie schöpfe, schrieb er, „den Auftrag der Auslegung für den nicht aus, der in den biblischen Schriften die eine Heilige Schrift sieht und sie als von Gott inspiriert glaubt.“Das tat er – und fasste seine Vorstellung von der „Vernunft des Glaubens“im geistlichen Testament abermals zusammen: „Jesus Christus ist wirklich der Weg, die Wahrheit und das Leben – und die Kirche ist in all ihren Mängeln wirklich Sein Leib.“Dieser kurzen Dogmatik folgt nur mehr seine demütige Bitte um Gebet.