Ganz dezent vom Scheitel bis zur Sohle
Franz Welser-Möst wählte für seinen dritten Auftritt am Neujahrsmorgen ein ungewöhnliches Programm. Doch nicht nur die unbekannten Titel dürften das TV-Millionenpublikum anno 2023 überrascht haben.
Aufregung gab es im Vorfeld, weil politisch korrekte Anfragen nach der Zulässigkeit des „Radetzkymarschs“in Zeiten wie diesen gestellt wurden. Man darf sich über dergleichen nicht wundern, solang Künstler – an welche Zeiten erinnert das wiederum? – nach ihren politischen Aussagen, nicht nach ihren künstlerischen Leistungen bewertet werden. Aber spätestens im Ausklang des Neujahrskonzerts 2023 könnte selbst der unmusischste Moralapostel begriffen haben, dass es doch immer darauf ankommt, in welchem Kontext Musik erklingt. Und vor allem: wie sie gespielt wird.
Spätestens im Mittelteil des berühmtesten Marsches aus der Feder von Johann Strauß Vater kann niemand überhört haben, dass auch im graden Takt klangliche Delikatesse und fein dynamische Nuancierung Trumpf sein können. Zu dieser Musik ließe sich immer noch marschieren, gewiss. Zu differenziertesten Wiedergaben eines Wiener Walzers lässt sich ja auch tanzen. Die Betonung liegt aber auf dem Wort „auch“.
Die Wiener Philharmoniker hatten in ihrem traditionellen Konzert zum Jahresbeginn diesmal angelegentlich darauf verwiesen, unter welchem künstlerischen Stern der Großteil der Musik der Strauß-Dynastie und deren Trabanten entstanden ist: Franz Welser-Möst, zum dritten Mal bei dieser Gelegenheit am Pult, weiß um die Geschichte dieser urösterreichischen Unterhaltungsmusik; und er weiß, dass die Sträuße über lange Zeit ihre Novitäten nur in großen symphonischen Zusammenhängen vorgestellt haben. In ihren Konzerten hörte man die neueste Musik bedeutender Zeitgenossen von Berlioz über Liszt bis Richard Wagner – und wenn ein solch kundiger Dirigent am Neujahrs-Pult steht, dann kann man die Vibrationen dieser damals avantgardistischen Kompositionen in den Walzerkreationen noch nachspüren.
Ohne bekannte Titel
Zumal in einem Programm, in dem bewusst auf die berühmtesten Nummern zwischen „Wiener Blut“und „Fledermaus“-Ouvertüre verzichtet wurde, um 14 von 15 offiziellen Programmnummern als Neujahrskonzertpremieren präsentieren zu können. Noch dazu mit einer deutlichen Präferenz für den mittleren der Strauß-Brüder, Joseph, der allgemein schon von den Zeitgenossen als der sensibelste, und als der musikalisch modernste angesehen wurde.
So werden denn die Musikfreunde in aller Welt bei dieser 65. TV-Übertragung des Wiener Weltereignisses nicht schlecht gestaunt haben, wie subtil, wie behutsam unsere Philharmoniker Musik artikulieren können, die sie sogar selbst bei jener Gelegenheit manchmal effektheischend knallen lassen wie Champagnerkorken. Das Neujahrskonzert 2023 gab sich ungewohnt dezent vom Scheitel bis zur Sohle.
Selbst in den sonst eher rasant genommenen Schnellpolkas eines Eduard Strauß blieb man vorsätzlich innerhalb des Tempolimits tänzerischer Vernunft. Auf die Überholspur drängt ein Dirigent wie Welser-Möst nicht. Und schon im ersten Walzer, Joseph Strauß’ zur Einweihung des Erzherzog-CarlDenkmals auf dem Heldenplatz komponierten „Helden-Gedichten“, schien auch das ohnehin bereits gemütliche Tempo mehr als einmal noch weiter zurückgenommen, um Zeit zu gewinnen für pastellig aufgetragene Farbtupfer und fein modulierte Dynamik innerhalb der melodischen Phrasen. So unterstreicht man das Raffinement der Orchestrierungstechnik
und gestaltet das vielleicht stillste, besinnlichste aller Neujahrskonzerte. Die Fernsehzuschauer konnten das sogar sehen: Zeitweilig konzentrierte sich die Kameraführung in langen Schnitten auf den schönen Blumenschmuck im Saal. Das harmonierte mit den Klängen – anders als die uncharmante Sprung- und Hüpfordnung der Balletteinlagen, die das Staatsballett oft in unerklärlichen optischen Kontrast zur tönenden Bewegung brachten.
Gelungener Pausenfüller
Gelungen diesmal hingegen der Pausenfilm, der an die Weltausstellung von anno 1873 erinnerte und historische Fotos des Ausstellungsgeländes mit modernsten Mitteln in 3-D-Vision einstigen imperialen Glanzes und der Technikgläubigkeit jener Ära vermittelte, von philharmonischen Ensembles so zurückhaltend-stimmig und mit teils erstaunlich melancholischen Klängen untermalt, wie das Konzert rundum musiziert wurde. Durchaus mit einer Träne im Knopfloch: Angesichts der vielen Titel, die bei den
Sträußen oder auch Hellemsberger, die Erinnerungen an die zuversichtliche Technikgläubigkeit jener Jahre weckten, schien das auch durchaus angebracht.
Den nötigen Fun-Factor für die weltweite Vermarktung als Stimmungsaufheller erfüllten dann doch einige philharmonische Crossover-Melangen zu Bildern des heutigen Wurstelpraters.
Musikalische Höhepunkte bei Joseph Strauß: In „Perlen der Liebe“feierte der symphonische Tiefgang bereits Triumphe, die danach im erst jüngst entdeckten „Allegro fantastique“ahnen ließen, wie ein Symphoniesatz bei Joseph Strauß geklungen haben könnte.
Ein Fragezeichen setzten die Sängerknaben, erstmals mit ihren Chormädchen im Musikverein, sangen sie nur den „Heiteren Muth“, nicht aber das eigens für eine ihrer CD-Produktionen arrangierte „For Ever“. Warum? Das Orchester nutzte die Chance und wählte ein zügigeres Tempo – apropos philharmonische Wahl: für Neujahr 2024 fiel sie wieder auf Christian Thielemann.