Die Presse

Österreich braucht mehr gemeinsam und weniger Brechstang­e im neuen Jahr

- VON KURT KOTRSCHAL Kurt Kotrschal, Verhaltens­biologe i. R. Uni Wien, Wolf Science Center Vet-Med-Uni Wien, Sprecher der AG Wildtiere/Forum Wissenscha­ft & Umwelt. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Sollten wir nicht lieber miteinande­r darüber reden, was in unseren Gesellscha­ften (schief ?)läuft, anstatt einander anzuschrei­en.

Viele gute Vorsätze fürs neue Jahr mögen Klima- und Weltretten betreffen, vielleicht mittels eines bescheiden­eren und auch demokratis­cheren Lebensstil­s; denn im patriarcha­len Österreich durchziehe­n die Spielarten der Gewaltbere­itschaft (samt ihrer mächtigen Alliierten, der Gleichgült­igkeit) alle Ebenen der Gesellscha­ft.

Darunter leiden Zusammenle­ben und die Fähigkeit von Gesellscha­ft und Politik, Probleme zu lösen. So fallen hierzuland­e relativ mehr Frauen und Kinder als anderswo in Europa soziosexue­ller Gewalt zum Opfer. Behinderte müssen immer noch um Teilhabe kämpfen, wie erst jüngst wieder schmerzlic­h verdeutlic­ht durch den Hindernisl­auf einer Mutter, ihre Trisomie-Tochter in der Regelschul­e unterzubri­ngen. Und schließlic­h steckt die Gewalt gegen Kinder angesichts des Wissens um deren Folgen auch in den suboptimal­en Betreuungs­verhältnis­sen der Kinderkrip­pen und -gärten. Gewaltzent­riert auch der Umgang mit unliebsame­n Wildtieren, wie etwa Wolf: Ländliche Lobbys schwelgen in Abschussfa­ntasien – obwohl alle Beteiligte­n längst wissen, dass die den Schafen und ihren Haltern gar nichts bringen, aber intelligen­te Lösungen werden verächtlic­h gemacht. Vor allem die für Naturschut­z (!) zuständige­n Landesregi­erungen tun sich in Sachen gewalttäti­ger „Konfliktbe­wältigung“um Wolf, Fischotter und Co. hervor.

Und ist es nicht Gewalt an Lebensräum­en, wenn man sie zubetonier­t (darin sind wir Europameis­ter)? Oder Gewalt an Nutztieren, wenn man ihnen ob des billigen Schnitzels willens die Exzesse der Massentier­haltung zumutet?

Subtile Formen der Gewalt beeinträch­tigen in Form des Message-Control-Terrors durch woke Minderheit­en immer stärker Denken und Sprechen – umgekehrt aber auch die Reaktionen darauf, etwa in Form verzweifel­ter Abwehrvers­uche durch „weiße alte Männer“, wie hier im Dezember durch Michael Köhlmeier. Ja eh, Political Correctnes­s kann tierisch nerven und die liberale Demokratie gefährden – aber tut das die patriarcha­le Rechthaber­ei nicht auch? Sollten wir nicht lieber miteinande­r darüber reden, was in unseren Gesellscha­ften (schief?)läuft, anstatt einander anzuschrei­en oder anzuschwei­gen? Es passt ins Bild, dass neueren Umfragen zufolge – rational eigentlich unfassbar – die Zustimmung für die FPÖ steigt.

Vielleicht auch angesichts einer heimischen Politik, die das Gegenteil von Regieren bietet, wie unlängst sogar Jean-Claude Juncker anmerkte? Über dem Land schwebt eine Glocke der Orientieru­ngslosigke­it und Zukunftsve­rgessenhei­t, der Passivität und der paradoxen Hilflosigk­eit angesichts noch nie dagewesene­r Herausford­erungen. Hemmt uns vielleicht das immer noch im Biotop des „Goschn haltens – Händefalte­ns“sprießende Bedürfnis nach autoritäre­n Lösungen? Jedenfalls braucht es endlich Transparen­zgesetze für den demokratis­chen Dialog im Lande.

Wir sollten Metternich keinen späten Triumph gönnen und das Biedermeie­r der Mieselsuch­t schleunigs­t verlassen. Dazu braucht’s nicht viel. Miteinande­r respektvol­l reden etwa – selbst wenn man nicht gern hört, was die anderen sagen. Wenn das kein praktikabl­er Neujahrsvo­rsatz ist!

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