Das Du-Wort: Fluch oder Segen?
Über das Siezen, das Duzen und die Penetranz der Vereinnahmung im verbalen Sozialverhalten unserer Zeit.
Zuerst ist es Bekanntschaft, die zur Freundschaft führen kann, aber keineswegs muss. Wenn ja, dann folgt auf die Anrede „Sie“das „Du“-Wort, ist aber auch nicht selbstverständlich. Vielfalt und Nuancen im Psychologischen und Verbalen sind Werte unserer Kultur. Ihre Rudimentation ist ein Verlust, vergleichbar mit der Biodiversität, die zu erhalten wir alle aktuell aufgerufen sind.
Schön, dass es zum Beispiel in der Konditorei Demel noch die Dritte-Person-Anrede gibt, wenn die Serviererin den Gast mit der Speisekarte fragt: „Haben schon gewählt?“Der Hofrat bestellt für sich einen Braunen der Marke Null Komma Josef und für seinen Hund, der ihm frappant ähnlich aussieht, Trinkwasser in einer Schüssel. Als er sich die Zeitungen holt, meldet ihm die Kellnerin im Vorbeigehen, „den Kaffee fürn Herrn Hofrat habe ich bereits auf Ihren Tisch und die Schüssel mit dem Wasser für den Herrn Hund unter den Tisch gestellt“. Ein monarchistisches Restgehabe mit Unterhaltungswert aus vergangenen Zeiten. Für mich schön, weil historisch-nostalgisch, obwohl ich rational leidenschaftlicher Republikaner bin.
Sich beim Trinken verbrüdern
Nun aber zurück zum Du-Wort. Seine so gar nicht unwichtige Funktion im Sozialverhalten kommt in der „Fledermaus“von Johann Strauß am schönsten zum Ausdruck. Es ist die Schlüsselszene, welche so mancher Inszenierer des „zeitgemäßen“Regietheaters scheinbar überhaupt nicht begriffen hat. Ein gemeinsames Saufgelage der höchst gemischten Gesellschaft von Beamten, Offizieren, Reichen und Verarmten, bei denen der Alkohol seine soziologisch nivellierende Wirkung nicht verfehlt. Aus dem anfänglich steifen „Sie“wird in weinseliger Stimmung allmählich das letztendlich alle Teilnehmer verbindende „Du“. Die noble Verhaberung über alle gesellschaftlichen Rangordnungsgrenzen hinweg endet kollektiv händchenhaltend mit dem Chorgesang „Brüderlein, Schwesterlein“und „duiduu“(= du – ich – du). Wohlgemerkt nicht mit „duliliöö“als hörbares Zeichen der Bildungslücken so mancher Regisseure von Operettenbühnen. Im Ungarischen heißt „Pertu“trinken sich verbrüdern; es ist das madjarisierte Wort von „per Du“.
Die subtilere Art, den anderen zum Dutzen zu veranlassen, ist so zu tun, als ob man sich unabsichtlich versprochen hätte. Du statt Sie und schauen, wie verdutzt der Geduzte reagiert. Schnappt er nach dem Köder, ist alles paletti. Lehnt er ab, so ist man mit einem „Tschuldigung, es war ein Versprecher“elegant aus dem Schneider.
Mozart siezte seinen Vater
Die Differenzierung in Du, Sie und Dritte-Person-Anrede gibt es in unserem Kulturkreis seit dem
17. Jahrhundert. Vorher waren
alle Menschen einer Population, die sich später „Nation“nannten, per Du, ob Bauer mit Bürger oder Gefreiter mit General. Bis heute übrig geblieben ist nur einer, nämlich der Papst in Rom, welcher weltweit mit „Du Heiliger Vater“angesprochen wird. Mozart hat seinen Vater noch gesiezt, und in manchen „gehobenen“Familien Frankreichs siezen sich sogar die Eheleute.
Der legendäre Chirurg-Professor Ferdinand Sauerbruch an der Berliner Charité hat seine gesamte Mitarbeiterschaft geduzt, bis auf einen, den er besonders geschätzt hat. Diesem galt das privilegierte „Sie“des Chefs. Konrad Lorenz, der nobelpreisgekrönte Verhaltensforscher hat uns alle geduzt, weil, „wenn ich jemanden von meinen Mitarbeitern rügen muss, sagt es sich leichter ,Du Arschloch als Sie Arschloch‘“. Dieser im Deutschen so gern gebrauchte anatomische Vergleich kam schließlich als Realpointe beim Autor skurriler Theaterstücke Fritz von Herzmanovsky-Orlando zum Tragen. Ein Wiener Stadtrat, seinerzeit zuständig für die Kunstschaffenden, war mit diesen auf vertrauensvollem „Du“. Als er zum Minister befördert wurde, hat er alle zu einem großen Fest der Selbstbeweihräucherung eingeladen. Vorher allerdings durch sein Sekretariat ausrichten lassen, dass er nunmehr nicht wünscht, per Du angesprochen zu werden. Worauf Herzmanovsky-Orlando coram publico sich mit dem Trinkspruch verabschiedet hat: „Herr Minister, gestatte mir ein letztes Du: Leck mich am Arsch!“
Kulturelle Aneignung
Heutzutage ist im Netz das Du das neue Sie. Spaßmacher von Beruf im Fernsehen glauben, sie seien besonders witzig und können sich folglich jede Peinlichkeit leisten. Ob Jung oder Alt, ob Frau oder Mann, jedes Interviewopfer wird automatisch geduzt. Wie zum Beispiel von einem clownhaft wirkendem penetrant-vereinnahmenden Herrn namens Horst Richter aktuell in der Sendung „Bares für Rares“.
Oder einst vom seligen Moderator Karl Moik im unseligen „Musikantenstadl“, von dem es hieß, er sei mit mehr Menschen per Du, als er kennt.
Diese Tendenz wird verstärkt durch das Ansinnen der Dänen, das Sie-Wort von Amts wegen her abzuschaffen. Da kann man nur mit Hamlet sagen: „Es ist etwas faul im Staate Dänemark“! Schweden ging noch einen Schritt weiter. Wer bei Ikea kaufen will, wird über Lautsprecher per Du begrüßt. Das ist „kulturelle Aneignung“der untersten Stufe, um es mit einem neuen Modewort zu sagen. Besser gesagt, es ist vielmehr kulturfeindliche Vereinnahmung auf fremdem Territorium. Wo bleibt da unser patriotischer Aufschrei „Mirsan-mir, und die anderen können uns kreuzweise“?
„Du, Herr Bundesminister“
Auf der anderen Seite gehört zum exklusiven Endemismus hierzulande das vertraute „Du, Herr Bundesminister“oder „Du, Herr General“, auch aus dem Munde von Jünglingen der Maturaklasse. Falls nämlich beide der CV angehören, wie bekanntlich die Abkürzung einer der christlich-konservativen Weltanschauungsverbindungen lautet. Dem gegenüber wirkt wiederum das „Servas, die Buben“, mit dem einst der legendäre Heinz Conrads im Radio gegrüßt hat, gradezu intim und burschikos.
Ob duzen oder siezen, das hängt bei uns mehr vom Parteibuch ab und weniger vom Altersunterschied. Der Zwischenruf per Du von der gegnerischen Partei im Parlament gilt als zutiefst verachtend. Wenn zum Beispiel der Arbeiterführer seiner politischen Kontrahentin vom bürgerlichen Lager zuruft: „Steh auf, Mamschi, du sitzt auf deinem Hirn“, wie einst im Hohen Haus tatsächlich geschehen. Im Französischen ist „frére et cochon“ein treffender Ausdruck für aufdringliche Vertraulichkeit. „Ich erinnere mich nicht, dass wir gemeinsam Schweine gehütet hätten“, lautet die deutsche Version.
Das Du-Wort also, Fluch oder Segen? Ein Segen, wenn es zum Beispiel Kameraden in Kasernen ein kumpanhaftes Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt. Ein Fluch, wenn damit etwa rhetorisch wehrlose Opfer vor laufender Kamera in verbale Geiselhaft genommen werden. Wir bleiben beim vertrauensvollen Sie – wer traut sich schon, mit diesen Worten penetranter Anbiederung durch Dutzen zu kontern? Wir sollten uns trauen. Ein wenig mehr Selbstachtung ist doch keine Schande.