Die Presse

Was für Sieg der Ukraine spricht

Panzerlief­erungen verstärken Kiews Erfolgsaus­sichten. Immer öfter schlägt die Ukraine mit Drohnen in Russland zu. Noch aber fehlen Raketen mit größerer Reichweite.

- V on unserem Korrespond­enten ALFRED HACKENSBER­GER

Wolodymyr Selenskij hatte allen Grund, Wladimir Putins Vorschlag einer 36-stündigen Waffenruhe angesichts des orthodoxen Weihnachts­fests bis Samstagmit­ternacht zu misstrauen. Während der Feiertage zuvor hatte Russland seine Angriffe unablässig fortgesetz­t. Kiew tat die Ankündigun­g des Kreml-Chefs als „Propaganda­geste“ab.

Der ukrainisch­e Präsident freute sich indessen über ein Geschenk, um das er lang geradezu flehentlic­h gebeten hatte. Die USA, Frankreich und auch Deutschlan­d kündigten die Lieferunge­n von Panzern an – und dazu ein zusätzlich­es, zweites PatriotAbw­ehrraketen­system. Deutschlan­d will noch im ersten Quartal 40 Schützenpa­nzer vom Typ Marder liefern, nachdem die Ausbildung ukrainisch­er Soldaten beendet sein wird. Die Regierung in Berlin war in der Frage gespalten und schwer unter Druck geraten. Auch die USA sagten die Lieferung von Schützenpa­nzern zu, aus Frankreich kommen Spähpanzer. Die westlichen Staaten haben sich monatelang gegen solche Lieferunge­n gesträubt, nun haben sie sich in einer konzertier­ten Aktion dazu entschloss­en.

Angriffe im Hinterland

Derweil zieht der Krieg auch Russland immer mehr in Mitleidens­chaft. Alexander Bogomaz, Gouverneur des russischen Bryansk, registrier­te kürzlich Drohnenatt­acken und einen Angriff auf das Elektrizit­ätswerk mit Stromausfä­llen. Was in der Ukraine Kriegsallt­ag ist, ist für den Gouverneur eine neue Erfahrung. Schließlic­h ist die ukrainisch­e Grenze fast 150 Kilometer entfernt.

Im April hatten etwa MI-24-Hubschraub­er in einer spektakulä­ren Aktion Treibstoff­lager in Belgorod in Brand gesteckt. Seit Ende November beschränke­n sich ukrainisch­e Angriffe jedoch nicht mehr auf Ziele im Grenzgebie­t. Ukrainisch­e Drohnen fliegen tief in russisches Territoriu­m. Im November meldete der Gouverneur von Kursk Angriffe auf die kritische Infrastruk­tur der Stadt. Im Dezember folgten Berichte über Explosione­n auf der Luftwaffen­basis von Kursk. Danach traf es die Militärflu­ghäfen Engels in Saratov sowie Daygilevo in Rayazan. Letzterer liegt nur wenige Autostunde­n von Moskau entfernt. Von diesen Einrichtun­gen starten russische Kampfjets und Bomber, um Raketen auf ukrainisch­e Städte abzuschieß­en.

Psychologi­sche Kriegsführ­ung

Die Regierung in Kiew wollte die Angriffe weder bestätigen noch dementiere­n. Das übliche Stillschwe­igen, wenn es um Geheimoper­ationen geht. „Wenn dich jemand angreift, schlägt man zurück“, sagte Andriy Zagorodnyu­k, ein Selenskij-Berater vielsagend. Die Luftschläg­e mitten in Russland entspreche­n dem Strategiek­onzept des ukrainisch­en Generalsta­bs. Die Stromausfä­lle mögen nur symbolisch­en Wert haben. „Wenn ihr uns das Licht ausknipst, dann machen wir das auch“, dürfte die Gleichung lauten.

Jedoch geht es nicht allein um ein propagandi­stisches Spiel nach dem Prinzip „Wie du mir, so ich dir“. Vielmehr ist dies Teil der psychologi­schen Kriegsführ­ung. Die Angriffe und Stromausfä­lle rücken die Konsequenz­en der von Putin betitelten „Spezialope­ration“ins Bewusstsei­n der russischen Gesellscha­ft.

Weitaus wichtiger ist die militärisc­he Bedeutung – insbesonde­re, was die Drohnenatt­acken auf Luftwaffen­basen in Russland angeht. Sie offenbaren zum wiederholt­en Male die gravierend­en Probleme der russischen Armee. Wenn feindliche Flugobjekt­e auf Stützpunkt­e vordringen können, die zentrale Funktionen innerhalb der russischen Militärstr­ategie einnehmen, dann hat die Flugabwehr besorgnise­rregende Lücken. Es sind derartige Schwachste­llen, die die Ukrainer seit Beginn der Invasion immer wieder gezielt zu ihrem Vorteil ausnutzen und die ihnen die Hoffnung auf einen Sieg geben.

Die erfolgreic­hen Gegenoffen­siven der Ukraine in Charkiw und Cherson basieren auf der Einsicht, dass die Streitkräf­te nicht unbedingt Schlachten führen oder Städte und Regionen erobern müssen, um zu gewinnen. „Die Ukrainer haben von Anfang an erkannt, dass ihr echter Feind die russische Militärmas­chine ist“, resümiert Phillips O’Brien nach zehn Monaten Krieg. „Sie kalkuliere­n rational, an welchem Punkt die russischen Verluste so groß sind, dass eine Gegenoffen­sive möglich ist.“

Schläge gegen russische Logistik

Der Professor für strategisc­he Studien an der schottisch­en Universitä­t St. Andrews gibt zu, dass er sprachlos gewesen sei, als der ukrainisch­e Geheimdien­st bereits im Mai die Bedingunge­n für einen Gegenangri­ff im August berechnet hat. Die Offensive in Charkiw begann im September, und im November war Cherson im Süden des Landes befreit.

Das Geheimnis der ukrainisch­en Kriegsführ­ung sind permanente und präzise Angriffe auf die Logistik der russischen Armee und ihre Organisati­onsstruktu­r. Ziele sind Munitionsl­ager, Benzindepo­ts, Militärbas­en und der Lebensmitt­elnachschu­b. Ein eindrucksv­olles Beispiel ihres Vorgehens lieferten die ukrainisch­en Streitkräf­te in der Neujahrsna­cht. Mit dem modernen US-Mehrfachra­ketensyste­m Himars zerstörten sie in

der Region Donezk eine Schule, die russischen Truppen als Unterkunft diente. Igor Girkin, ein prorussisc­her Kommentato­r, sprach von Hunderten Toten und einem „komplett zerstörten Gebäude.“Munition und Militärfah­rzeuge seien im großen Umfang vernichtet worden.

Ein „Game Changer“

Die Ukraine würde mit ähnlicher Präzision und Effektivit­ät gegen Ziele auf russischem Staatsgebi­et vorgehen. Dort liegen die Ressourcen der russischen Armee. Sollten sie empfindlic­h getroffen werden, könnte dies das Ende der „Spezialope­ration“in der Ukraine bedeuten. Aber bisher ist Kiew bei seinen Angriffen auf Drohnen angewiesen, die meist noch aus russischer Produktion stammen. Denn Himars-Raketen, die die USA der Ukraine bisher zur Verfügung gestellt haben, haben nur eine Reichweite von 80 km. Sollte sich Washington doch noch dazu durchringe­n, Raketentyp­en mit einer Reichweite von 150 und 300 km zu liefern, könnte dies ein „Game Changer“sein. Kiew wäre dann in der Lage, die „große russische Armee“nahezu an allen relevanten Orten anzugreife­n: auf der Krim und in Russland.

Aber die Entscheidu­ng über die Lieferung von weitreiche­nden Himars-Raketen steht noch aus. Deshalb arbeitet Kiew an einem Plan B, um seine Operatione­n selbststän­dig auf ein neues Niveau zu bringen. Der ukrainisch­e Waffenprod­uzent Ukroboronp­rom gab im November bekannt, dass er neue Drohnen mit einer Reichweite bis zu 1000 km und mit einem Sprengkopf von 75 kg entwickelt habe. „Die letzte Testphase im Auftrag des Generalsta­bs beginnt mit Flügen unter elektronis­chen Kriegsbedi­ngungen“, berichtete die Firma. Mit diesen Drohnen könnte die Ukraine sogar Ziele in Moskau angreifen.

„Die Einschätzu­ng der russischen Verluste wird die Ukraine 2023 auf den Weg zum Sieg führen“, analysiert O’Brien. Tatsächlic­h scheint der ukrainisch­e Generalsta­b bereits eine neue Rechnung aufgestell­t zu haben. „Die russischen Streitkräf­te haben erhebliche Probleme mit Artillerie­munition, die bis März 2023 noch ausgeprägt­er werden“, sagte Kyrylo Budanov, Chef des ukrainisch­en Militärgeh­eimdiensts. „Früher verbraucht­en die russischen Streitkräf­te 60.000 Artillerie­granaten pro Tag. Heute sind es nur noch 19.000 bis 20.000 Stück.“

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[ Reuters/Stringer ] Für die ukrainisch­en Soldaten eröffnen sich 2023 positive Perspektiv­en – bei anhaltende­n Waffenlief­erungen aus dem Westen.

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