Was für Sieg der Ukraine spricht
Panzerlieferungen verstärken Kiews Erfolgsaussichten. Immer öfter schlägt die Ukraine mit Drohnen in Russland zu. Noch aber fehlen Raketen mit größerer Reichweite.
Wolodymyr Selenskij hatte allen Grund, Wladimir Putins Vorschlag einer 36-stündigen Waffenruhe angesichts des orthodoxen Weihnachtsfests bis Samstagmitternacht zu misstrauen. Während der Feiertage zuvor hatte Russland seine Angriffe unablässig fortgesetzt. Kiew tat die Ankündigung des Kreml-Chefs als „Propagandageste“ab.
Der ukrainische Präsident freute sich indessen über ein Geschenk, um das er lang geradezu flehentlich gebeten hatte. Die USA, Frankreich und auch Deutschland kündigten die Lieferungen von Panzern an – und dazu ein zusätzliches, zweites PatriotAbwehrraketensystem. Deutschland will noch im ersten Quartal 40 Schützenpanzer vom Typ Marder liefern, nachdem die Ausbildung ukrainischer Soldaten beendet sein wird. Die Regierung in Berlin war in der Frage gespalten und schwer unter Druck geraten. Auch die USA sagten die Lieferung von Schützenpanzern zu, aus Frankreich kommen Spähpanzer. Die westlichen Staaten haben sich monatelang gegen solche Lieferungen gesträubt, nun haben sie sich in einer konzertierten Aktion dazu entschlossen.
Angriffe im Hinterland
Derweil zieht der Krieg auch Russland immer mehr in Mitleidenschaft. Alexander Bogomaz, Gouverneur des russischen Bryansk, registrierte kürzlich Drohnenattacken und einen Angriff auf das Elektrizitätswerk mit Stromausfällen. Was in der Ukraine Kriegsalltag ist, ist für den Gouverneur eine neue Erfahrung. Schließlich ist die ukrainische Grenze fast 150 Kilometer entfernt.
Im April hatten etwa MI-24-Hubschrauber in einer spektakulären Aktion Treibstofflager in Belgorod in Brand gesteckt. Seit Ende November beschränken sich ukrainische Angriffe jedoch nicht mehr auf Ziele im Grenzgebiet. Ukrainische Drohnen fliegen tief in russisches Territorium. Im November meldete der Gouverneur von Kursk Angriffe auf die kritische Infrastruktur der Stadt. Im Dezember folgten Berichte über Explosionen auf der Luftwaffenbasis von Kursk. Danach traf es die Militärflughäfen Engels in Saratov sowie Daygilevo in Rayazan. Letzterer liegt nur wenige Autostunden von Moskau entfernt. Von diesen Einrichtungen starten russische Kampfjets und Bomber, um Raketen auf ukrainische Städte abzuschießen.
Psychologische Kriegsführung
Die Regierung in Kiew wollte die Angriffe weder bestätigen noch dementieren. Das übliche Stillschweigen, wenn es um Geheimoperationen geht. „Wenn dich jemand angreift, schlägt man zurück“, sagte Andriy Zagorodnyuk, ein Selenskij-Berater vielsagend. Die Luftschläge mitten in Russland entsprechen dem Strategiekonzept des ukrainischen Generalstabs. Die Stromausfälle mögen nur symbolischen Wert haben. „Wenn ihr uns das Licht ausknipst, dann machen wir das auch“, dürfte die Gleichung lauten.
Jedoch geht es nicht allein um ein propagandistisches Spiel nach dem Prinzip „Wie du mir, so ich dir“. Vielmehr ist dies Teil der psychologischen Kriegsführung. Die Angriffe und Stromausfälle rücken die Konsequenzen der von Putin betitelten „Spezialoperation“ins Bewusstsein der russischen Gesellschaft.
Weitaus wichtiger ist die militärische Bedeutung – insbesondere, was die Drohnenattacken auf Luftwaffenbasen in Russland angeht. Sie offenbaren zum wiederholten Male die gravierenden Probleme der russischen Armee. Wenn feindliche Flugobjekte auf Stützpunkte vordringen können, die zentrale Funktionen innerhalb der russischen Militärstrategie einnehmen, dann hat die Flugabwehr besorgniserregende Lücken. Es sind derartige Schwachstellen, die die Ukrainer seit Beginn der Invasion immer wieder gezielt zu ihrem Vorteil ausnutzen und die ihnen die Hoffnung auf einen Sieg geben.
Die erfolgreichen Gegenoffensiven der Ukraine in Charkiw und Cherson basieren auf der Einsicht, dass die Streitkräfte nicht unbedingt Schlachten führen oder Städte und Regionen erobern müssen, um zu gewinnen. „Die Ukrainer haben von Anfang an erkannt, dass ihr echter Feind die russische Militärmaschine ist“, resümiert Phillips O’Brien nach zehn Monaten Krieg. „Sie kalkulieren rational, an welchem Punkt die russischen Verluste so groß sind, dass eine Gegenoffensive möglich ist.“
Schläge gegen russische Logistik
Der Professor für strategische Studien an der schottischen Universität St. Andrews gibt zu, dass er sprachlos gewesen sei, als der ukrainische Geheimdienst bereits im Mai die Bedingungen für einen Gegenangriff im August berechnet hat. Die Offensive in Charkiw begann im September, und im November war Cherson im Süden des Landes befreit.
Das Geheimnis der ukrainischen Kriegsführung sind permanente und präzise Angriffe auf die Logistik der russischen Armee und ihre Organisationsstruktur. Ziele sind Munitionslager, Benzindepots, Militärbasen und der Lebensmittelnachschub. Ein eindrucksvolles Beispiel ihres Vorgehens lieferten die ukrainischen Streitkräfte in der Neujahrsnacht. Mit dem modernen US-Mehrfachraketensystem Himars zerstörten sie in
der Region Donezk eine Schule, die russischen Truppen als Unterkunft diente. Igor Girkin, ein prorussischer Kommentator, sprach von Hunderten Toten und einem „komplett zerstörten Gebäude.“Munition und Militärfahrzeuge seien im großen Umfang vernichtet worden.
Ein „Game Changer“
Die Ukraine würde mit ähnlicher Präzision und Effektivität gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet vorgehen. Dort liegen die Ressourcen der russischen Armee. Sollten sie empfindlich getroffen werden, könnte dies das Ende der „Spezialoperation“in der Ukraine bedeuten. Aber bisher ist Kiew bei seinen Angriffen auf Drohnen angewiesen, die meist noch aus russischer Produktion stammen. Denn Himars-Raketen, die die USA der Ukraine bisher zur Verfügung gestellt haben, haben nur eine Reichweite von 80 km. Sollte sich Washington doch noch dazu durchringen, Raketentypen mit einer Reichweite von 150 und 300 km zu liefern, könnte dies ein „Game Changer“sein. Kiew wäre dann in der Lage, die „große russische Armee“nahezu an allen relevanten Orten anzugreifen: auf der Krim und in Russland.
Aber die Entscheidung über die Lieferung von weitreichenden Himars-Raketen steht noch aus. Deshalb arbeitet Kiew an einem Plan B, um seine Operationen selbstständig auf ein neues Niveau zu bringen. Der ukrainische Waffenproduzent Ukroboronprom gab im November bekannt, dass er neue Drohnen mit einer Reichweite bis zu 1000 km und mit einem Sprengkopf von 75 kg entwickelt habe. „Die letzte Testphase im Auftrag des Generalstabs beginnt mit Flügen unter elektronischen Kriegsbedingungen“, berichtete die Firma. Mit diesen Drohnen könnte die Ukraine sogar Ziele in Moskau angreifen.
„Die Einschätzung der russischen Verluste wird die Ukraine 2023 auf den Weg zum Sieg führen“, analysiert O’Brien. Tatsächlich scheint der ukrainische Generalstab bereits eine neue Rechnung aufgestellt zu haben. „Die russischen Streitkräfte haben erhebliche Probleme mit Artilleriemunition, die bis März 2023 noch ausgeprägter werden“, sagte Kyrylo Budanov, Chef des ukrainischen Militärgeheimdiensts. „Früher verbrauchten die russischen Streitkräfte 60.000 Artilleriegranaten pro Tag. Heute sind es nur noch 19.000 bis 20.000 Stück.“