Sogar Pippi Langstrumpf verdankt ihm viel
Als Hitler-Verehrer geriet der Norweger Knut Hamsun in Verruf – trotzdem bleibt sein früher Roman „Hunger“einer der stärksten Texte der Moderne. Jetzt ist er in einer Neuübersetzung zu entdecken.
Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“Wer kennt sie nicht, die Anforderung des 20-jährigen Kafka an ein Buch - zumindest an ein Buch, wie die Menschen, so meinte er, es existenziell brauchen: „Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord . . .“, lauten die Zeilen davor, im Brief an seinen ehemaligen Mitschüler und den späteren Kunsthistoriker Oskar Pollak.
14 Jahre davor, 1890, veröffentlichte der junge Norweger Knut Hamsun einen Roman, der seitdem auf viele wie eine solche „Axt“wirkte: „Hunger“(„Sult“). Der mit seinem zerfallenden Ich und zerfallenden Sinnzusammenhang ein Gründungstext der Moderne wurde, den Weg wies zu Kafka, James Joyce, Marcel Proust, Virginia Woolf, zu Hermann Hesse und Samuel Beckett, ja sogar, hat man in manchen Dialogen den Eindruck, zum Absurden Theater. Und der noch Astrid Lindgren schwärmen ließ, ein größeres Leseerlebnis habe sie nie gehabt.
Vor Nobelpreis und NS-Begeisterung
Heute gibt er – in einer Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg, erschienen im ManesseVerlag – wieder Rätsel auf. Man glaubt beim Lesen zu verstehen, warum dieser Text über einen jungen Mann, der vom Hunger geplagt in Oslo – damals noch Kristiana – herumstreift, einst so viel Aufsehen, Ablehnung und Erschütterung hervorgerufen hat. Und staunt zugleich, weil er heute, 130 Jahre später, noch so eine Kraft, ja, Schlagkraft entwickelt. Anders als sein Jahrzehnte später entstandener Roman „Segen der Erde“, für den er 1920 zum Literaturnobelpreis und zu weltweiten Ehren kam – bevor er sich zu einem Verehrer des Nationalsozialismus und Adolf Hitlers entwickelte. „Konnte er nicht das Maul halten?“, schrieb dazu 1934 einer seiner Bewunderer, der jüdische Autor und Journalist Kurt Tucholsky: „Himmelarschundzwirn. Viele Enttäuschungen können mir hinieden nicht mehr begegnen, aber das war eine, und sie hat gesessen.“
„Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristiania umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr
gezeichnet worden ist“– so beginnt „Hunger“. Ein junger Autor streift durch die Stadt, der sich vergeblich mit Zeitungsartikeln über Wasser zu halten versucht, dessen ganzer Besitz längst im Pfandhaus liegt und der während des Romans auch noch aus der Wohnung geworfen wird, weil er mit der Miete so sehr im Rückstand ist.
Sägespäne gegen den Hunger
Hunger beherrscht ihn als Schmerz, aber auch „fröhlicher“(durch Halluzinationen inspirierender) Wahnsinn. Der Hunger ist so nagend, dass der junge Mann Sägespäne dagegen isst, oder einen Knochen, den er für seinen inexistenten Hund erbeten hat (und den er wütend immer wieder abnagt, obwohl er die rohen Fleischreste stets erbrechen muss). Andererseits rennt er, von einem Bettler angesprochen, schnell ins Pfandhaus, um für diesen auch noch seine Weste zu versetzen. Einer Frau auf der Straße gibt er in spontaner Eingebung den märchenhaften Namen Ylajali und verfolgt sie eine Zeit lang. Einem alten Mann auf der Parkbank fabuliert er das Blaue vom Himmel herunter, etwa über seinen angeblichen Vermieter Happolati. („Pippi Langstrumpf wäre nie eine so enorme Lügnerin geworden, wenn Hamsun nicht auf seiner Holzbank gesessen und das Blaue vom Himmel heruntergelogen hätte über den ungeheuerlichen Happolati“, schrieb die von der Lektüre auch äußerst amüsierte Astrid Lindgren.) Ein anderes Mal hilft ihm ein von ihm erfundenes Wort – „Kuboaa“– durch eine Nacht im Gefängnis.
Als Hamsun diesen Roman anfing, der ihm zum Durchbruch verhalf, lebte er nach zwei vergeblichen Versuchen, in den USA Fuß zu fassen, krank und hungrig in Kopenhagen. Leben am Existenzminimum kannte er schon davor, als Kind armer Kleinbauern, die ihn schließlich an einen Onkel weitergaben, dem sie Geld schuldeten. „Hunger“sei ein Buch „über die feinen Schwingungen einer empfindsamen Menschenseele“, schrieb Hamsun, über „die Mysterien der Nerven in einem ausgehungerten Körper“.
Sinn: „Das Ziel, auf das geschossen wird“
Warum dieser Text wohl heute noch so fasziniert, obwohl das darin transportierte Lebensgefühl in vieler Hinsicht dem künstlerischer (jüngerer) Zeitgenossen verwandt ist? Die deutsche Autorin Felicitas Hoppe versucht eine Antwort – und auch wegen ihres Nachworts lohnt sich die Lektüre der Neuausgabe: Wegen Hamsuns „bestechend gegenwärtiger Sprache, die sich in keiner einzigen Zeile darum bemüht, auf sinnstiftende Weise philosophisch zu sein. Sinn ist kein Thema, sondern das Ziel, auf das unaufhörlich geschossen wird“. Dieser Roman sei „der schönste Beweis dafür, dass große Literatur zwar gnadenlos das Leben beleuchtet, über unser moralisches Vorankommen in der hiesigen Welt allerdings keine verlässliche Auskunft gibt“.