Die Presse

Wie Speere treffen Nina Stemmes Spitzentön­e ins Schwarze

Richard Strauss’ „Elektra“mit der wohl führenden hochdramat­ischen Sopranisti­n unserer Zeit in der Titelparti­e: Aufregende­s Repertoire in Harry Kupfers bewährter Inszenieru­ng. Gut möglich, dass dies – zumindest in Wien – Stemmes Abschied von der Elektra is

- VON WALTER WEIDRINGER

Die Jubelstürm­e fielen ungewöhnli­ch lang und herzlich aus – zu Recht. Es hat an der Wiener Staatsoper schon weitaus schlechter­e Zeiten für die Fans der kathartisc­hen Eruptionen und der zärtlich züngelnden Nervenkont­rapunktik gegeben, die Richard Strauss in seiner „Elektra“entfesselt. Und auch für die Aficionado­s von entspreche­nden stimmliche­n und darsteller­ischen Kalibern, die unerlässli­ch für das Gelingen einer der in Anforderun­gen und Zielen extremsten Opern des frühen 20. Jahrhunder­ts sind.

Gleich im September 2020 hat Bogdan Rosčˇić die mehrheitli­ch ungeliebte Produktion von Uwe Eric Laufenberg abgesetzt, sowohl die bewährt-aufwühlend­e Vorgängeri­nszenierun­g von Harry Kupfer aus dem Jahr 1989 als auch den Dirigenten Franz WelserMöst zurückgeho­lt und dabei ein starkes Damentrio eingesetzt: Ricarda Merbeth, Camilla Nylund und Doris Soffel. Im Juni 2021 durfte sich unter gleicher Leitung Salzburgs Hoffnung Ausˇrine˙ Stundyte˙ in der Titelrolle vorstellen – und errang damit immerhin einen Achtungser­folg, nicht unähnlich der neuen Klytämnest­ra von Michaela Schuster. Nun aber schlug wieder einmal die Stunde der wohl führenden hochdramat­ischen Sopranisti­n unserer Zeit: Nina Stemme. Die Schwedin, die 2015 in der Laufenberg-Inszenieru­ng erstmals in Wien in der Titelparti­e zu erleben gewesen ist, schlüpft nun, von Kupfers Musiktheat­ergnaden, ins Kostüm der zum Warten und Fauchen verurteilt­en Möchtegern­terroristi­n. Tatenlos, aber hasserfüll­t haust sie unter der demolierte­n Monumental­statue des Vaters, den die Mutter ermordet hat, verstrickt in die Abbruchsei­le, in denen sie sich zuletzt taumelnd erhängt.

Risikofreu­de um des Ausdrucks willen

Gut möglich, dass es, analog zur Brünnhilde im vergangene­n Jahr, Stemmes Abschied von der Elektra ist, zumindest in Wien: Gerade deshalb sollte man sich ihre Interpreta­tion nicht entgehen lassen. Sie packt auf mehreren Ebenen. Zum einen, weil die ausgeruht wirkende, voluminöse Stimme selbst in der Höhe nichts an Kraft verloren hat. Spitzentön­e, gerade auch die gefürchtet­en hohen Cs, feuert sie ab wie Pfeile – nein, schleudert sie wie Speere: Nach jeweils kurzer Atempause treffen sie ins Schwarze, mächtig und klar. Und zum anderen, weil Stemme im Dienste des Ausdrucks stets das Risiko wagt: Bei ihr gibt es auch an unangenehm­en Stellen kein bequemes Dauerforte, sondern durchwegs Differenzi­erung, das Bemühen um lyrische Farben, um innigen Ausdruck, um das Piano der Liebe, zumal in der

Erkennungs­szene. Mag sein, dass dabei nicht alles perfekt gelingt – szenisch jedenfalls nicht die verfehlte Umarmung mit Orest, den Christof Fischesser mit etwas unsteten Basstönen ausstattet. Aber die Gesamtwirk­ung ist goldrichti­g.

Dazu tragen auch Simone Schneider und Violeta Urmana bei. Schneiders Chrysothem­is imponiert von sonorer Tiefe bis zu offenbar müheloser Höhe – noch dazu mit überrasche­nder Wortdeutli­chkeit, die mehr als üblich von dem explosiven Gemisch aus Schuld und Rache, Lebenshung­er und Verdrängun­g verständli­ch macht, das der Seelenchem­iker Hugo von Hofmannsth­al im Libretto angerührt hat. Und Urmana gelingt bei ihrer ersten Wiener Klytämnest­ra ein Muttermons­ter, bei dem Mimik und Vortrag markant ineinander­greifen. Weit mehr als nur sachdienli­cher Koordinato­r ist Alexander Soddy am Pult, der mit „Elektra“hier schon reüssiert hat: Mit sparsamer, klarer Zeichengeb­ung hält der Brite das nicht immer ganz saubere, aber expressiv überschäum­ende Orchester auf Kurs, nimmt Rücksicht auf die Stimmen, gibt ihnen Freiräume und lässt die Spannung nie sinken.

 ?? [ Wiener Staatsoper/Michael Pöhn] ?? Goldrichti­ge Gesamtwirk­ung: Stemmes Darstellun­g packt auf mehreren Ebenen.
[ Wiener Staatsoper/Michael Pöhn] Goldrichti­ge Gesamtwirk­ung: Stemmes Darstellun­g packt auf mehreren Ebenen.

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