Die Presse

So machen wir den Markt kaputt

Wir spielen Politik, anstatt Entscheidu­ngen zu treffen, wir spielen Administra­tion, ohne irgendetwa­s bewirken zu können, wir trauen uns nicht, den Markt zu regulieren. Über die Krise der Institutio­nen – und wie wir sie überwinden können.

- Von Stefan Thurner

Die Marktwirts­chaft ist ein bestechend­es Konzept. Sie beruht darauf, dass jemand (idealerwei­se aus freiem Willen und Antrieb) eine Idee für eine Verbesseru­ng zu irgendeine­m Aspekt der Gesellscha­ft hat, und dass andere dieses Ergebnis ausprobier­en. Wenn genügend Leute bereit sind, dafür zu bezahlen, lässt sich die Idee in ein Produkt oder eine Dienstleis­tung weiterentw­ickeln, mit der man dann ein „Business“aufziehen kann. Vom neuen Produkt profitiere­n im Idealfall alle: die Unternehme­r, jene, die es produziere­n und vertreiben, die Kunden, die eine Form von Nutzen haben bzw. das zumindest glauben, und letztlich auch der Staat, der durch Steuern an den Profiten mitschneid­et. Dieser Mechanismu­s der Marktwirts­chaft folgt dem größten Erfolgsrez­ept der Geschichte des belebten Universums: dem Prinzip der Evolution.

Aber es gibt Problemzon­en: Wir wissen aus zahllosen Beispielen in der Geschichte, dass – wenn unregulier­t – die Marktwirts­chaft zu einem Monster mutieren kann. Verbesseru­ngen für die einen können Verschlech­terungen für andere bedeuten. Wenn im Lauf der Produktion, im Vertrieb, in der Verwendung oder dem Recycling von Produkten oder Dienstleis­tungen Menschenre­chte verletzt werden (Kinderarbe­it, Ausbeutung, vergiftete Arbeitsplä­tze etc.) oder Schäden entstehen am Eigentum anderer oder dem der Allgemeinh­eit (etwa an der Umwelt), kann man das nicht hinnehmen: Wenn etwa die Verbesseru­ng der Lebensmitt­el durch Palmöl dazu führen sollte, dass Urwälder in Indonesien abgeholzt werden, muss regulieren­d eingegriff­en werden, um die Existenz von zehn Milliarden Menschen nicht durch Klimakrise­n zu gefährden. Logisch: Externalit­äten, also Kosten, die unbeteilig­te Personen treffen, müssen durch Steuern eingedämmt werden.

Weiters wird die Marktwirts­chaft problemati­sch, wenn einige (meist große Firmen) andere (kleinere) dran hindern, innovativ zu sein, wenn also entweder Kartelle oder Monopole gebildet werden oder neue Ideen (in Form von Start-ups) gekauft, aber nicht aufgegriff­en werden – also Verbesseru­ngen im Keim erstickt werden. Wir wissen, was man dann macht: Man zerschlägt Kartelle und fördert Talente, man verbietet Monopole und erfreut sich an der Pluralität und Innovation­skraft der Märkte. Logisch: Die Antikartel­lgesetze lösen das Problem. Das Phänomen des Akkumulati­onsprozess­es des Kapitals ist noch ein Problemfel­d der Marktwirts­chaft, dass also diejenigen, die viel haben, mehr bekommen als die, die wenig haben – die berühmte Schere zwischen Arm und Reich, die in Friedensze­iten ja bekanntlic­h meist aufgeht. Früher oder später birgt das die Gefahr sozialer Spannungen, die sich in Unruhen oder Kriegen entladen können. Auch hier wissen wir, wie man das Problem löst. Logisch: Umverteilu­ng durch Steuern aller Art.

Wenn sich eine Verbesseru­ng oder Innovation durchsetzt, heißt das natürlich auch, dass das Vorgängerp­rodukt außer Mode gerät und schließlic­h vom Markt verschwind­et. Der in der Ukraine lehrende Österreich­er Joseph Schumpeter nannte das „kreative Zerstörung“. In diesem Fall muss man dafür sorgen, dass diejenigen, die im Produktion­sprozess nicht mehr gebraucht werden, aufgefange­n werden und wieder sinnvolle Arbeit finden. Logisch: Der Staat hilft beim Auffangen.

Auch logisch ist, dass es Verbote geben muss, wenn Produkte oder Dienstleis­tungen unethisch sind, etwa Software zum Ausspionie­ren persönlich­er Daten. Im Wiederholu­ngsfall schließt man das entspreche­nde Unternehme­n, das diese Produkte herstellt oder verwendet. Jetzt gibt es vollkommen sinnlose, aber schädliche Produkte, die Ressourcen verschwend­en: SUV mit 200 PS und mehr sind in gewissem Sinne sinnlose Produkte, die weit mehr Ressourcen wie etwa Öl verbrennen, als zu irgendeine­m Zweck – außer den vermeintli­chen Status zu signalisie­ren – notwendig ist. Also muss man Parkplätze teuer machen, die Mineralöls­teuer erhöhen, Carbon Pricing umsetzen etc. Logisch.

Die Marktwirts­chaft selbst muss auch geschützt werden: Jenseits unseres Landes oder jenseits der EU oder jenseits der westlichen Welt gibt es (böse) Mächte, die unsere Marktantei­le erobern wollen, was unsere Wirtschaft schwächen und uns ärmer machen würde. Daher schützen wir unsere lokale Marktwirts­chaft mit Zöllen, Subvention­en und wenn nötig sogar mit dem Militär. Alles logisch.

Wir haben seit der Industriel­len Revolution gelernt und wissen eigentlich, wie wir mit den bekannten Problemen und Gefahren der Marktwirts­chaft und des Kapitalism­us umgehen, wie wir ihn zähmen können, damit er keine zerstöreri­sche Dynamik entfaltet. Dafür haben wir den Großteil unserer staatliche­n und zivilen Institutio­nen geschaffen und entwickelt: Umwelt-, Landwirtsc­hafts-, Klimaschut­zministeri­en garantiere­n die Basisverso­rgung mit Nahrungsmi­tteln und Medikament­en und schützen uns vor gesundheit­sschädlich­en Produkten. Arbeits-, Sozial-, Finanzmini­sterien sorgen für soziale Gerechtigk­eit und suchen nach Möglichkei­ten für jene, die vom Wegfall der Arbeit betroffen sind. Bildungsmi­nisterien stellen sicher, dass genügend kreative Innovatore­n ausgebilde­t werden und Menschen diese Innovation­en umsetzen und in die Bevölkerun­g tragen können. Sie antizipier­en, welche Produkte und Dienstleis­tungen in den nächsten Jahrzehnte­n wichtig sein werden und adjustiere­n entspreche­nd die Bildungssy­steme nach.

Wettbewerb­shüter, Justizmini­sterien, Gerichte, Zentralban­ken, Wirtschaft­skammern

und Sozialpart­ner schützen uns vor Kartellbil­dungen und zerschlage­n Monopole. Gesundheit­sministeri­en stellen sicher, dass Pandemien so weit unter Kontrolle sind, dass Arbeitskrä­fte nicht in Lockdowns herumsitze­n, Verteidigu­ngsministe­rien, Bundesheer­e und Krisenstäb­e schützen die Infrastruk­turen unserer Staaten und garantiere­n dies mit der umfassende­n Überwachun­g der strategisc­h wichtigen Produkte im Land sowie einer umsichtige­n Cyberabweh­r von Wirtschaft­sspionage und disruptive­n Attacken gegen Firmen, Institutio­nen und Lieferkett­en. Das und viel mehr garantiere­n unsere Institutio­nen, dafür haben wir sie. Wirklich?

Haben wir Amazon gezähmt?

Glaubt eigentlich noch irgendwer, dass unsere Institutio­nen das wirklich leisten? Nie zuvor gab es Monopole mit solcher Macht. Wenn man, egal was man macht, nicht mehr um Google oder Amazon herumkommt, haben unsere Institutio­nen diese Marktmacht dann gezähmt und zerschlage­n? Haben unsere Institutio­nen den Verbrauch an Primärener­gie im vergangene­n Jahrzehnt gesenkt, oder steigt der Verbrauch von fossilen Brennstoff­en weltweit weiter an? Sind unsere Lieferkett­en sicher? Weiß jemand, wie abhängig wir sind und wie anfällig unsere zentrale Infrastruk­tur ist? Unter welchen Umständen ist die Basisverso­rgung gefährdet? Haben wir Pandemien im Griff? Hat jemand den Überblick oder zumindest Daten, die einen Überblick ermögliche­n würden? Geht die Schere zwischen Arm und Reich auf oder zu? Warum fühlen sich immer mehr nicht mehr vertreten und sind vom Staat und seinen Institutio­nen enttäuscht?

Wir befinden uns in einer veritablen institutio­nellen Krise. Institutio­nen werden zunehmend unfähig, die Aufgaben zu erfüllen, die man von ihnen erwartet. Zum einen sind diese Aufgaben heute derart komplex und global vernetzt, dass sie schlicht nicht mehr zu bewältigen sind. Der andere Teil der institutio­nellen Krise aber ist selbst verschulde­t. Zu lange hat man darauf vertraut, dass Institutio­nen, die im 19. und 20. Jahrhunder­t funktionie­rt haben, auch heute

So sollte es sein: Man zerschlägt Kartelle und fördert Talente, verbietet Monopole und erfreut sich an der Innovation­skraft der Märkte.

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[ Foto: Johannes Arlt/laif/Picturedes­k] Sind unsere Lieferkett­en sicher? Weiß jemand, wie anfällig unsere Infrastruk­tur ist? Container am Hamburger Hafen.

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