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Stefan Thurner: So machen wir den Markt kaputt
noch funktionieren. Doch sie sind nicht mehr zeitgemäß, sie haben den Anschluss an die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts verpasst. Egal wie viel in den Institutionen gearbeitet wird, sie funktionieren nicht mehr, sie sind entkoppelt. In anderen Worten: Die Arbeit, die in unseren Institutionen geleistet wird, verkommt zu „Bullshit-Jobs“. Anthropologen wie David Graeber meinen damit Jobs, die nichts mehr bringen und effektiv wirkungs- und daher sinnlos sind. Jobs, bei denen man sich nur noch selbst und seiner unmittelbaren Umgebung vormacht, etwas zu bewirken: Wir spielen Politik, anstatt notwendige Entscheidungen zu treffen, wir spielen Administration, ohne irgendetwas bewirken zu können, wir spielen Wissenschaft, anstatt Probleme zu lösen, wir spielen Innovationsförderung, anstatt Startups zu gründen, wir spielen Bildung, anstatt die nächste Generation auf die Probleme der Zeit vorzubereiten.
Nationalpopulisten aller Länder nutzen die institutionelle Politkrise strategisch, um Institutionen und damit die Demokratien, deren zentrale Organe sie sind, zu diskreditieren und auf kurz oder lang zu zerschlagen. In Zeiten großer Umbrüche – und nichts anderes als die wirtschaftliche Neuaufteilung der Welt findet gerade vor aller Augen statt – braucht es vollkommen neue Wege, vor allem in Europa: ein radikales „Neudenken“unserer Institutionen. Was müssen sie können, mit welchen Kompetenzen und Mächten müssen sie ausgestattet sein, welche (digitalen und interdisziplinären) Fähigkeiten müssen sie besitzen, um überhaupt wirken zu können?
Die Aufgabe ist relativ klar: Ziel ist es mit weniger, aber extrem kompetenten Menschen einen viel besseren Staat zu machen, in dem sich möglichst alle wiederfinden können. Das kann nur geschehen, wenn dieser Staat die Fähigkeit besitzt, kreative Kräfte (wirtschaftliche und gesellschaftliche) für sich zu nutzen, ohne dass sich diese gegen ihn selbst richten. Dass sich Institutionen nicht von innen heraus reformieren, ist jedem Leser Kafka’scher Texte und vielen praktizierenden Österreicher:innen und Europäer:innen bewusst. Es führt kein Weg an einer groß angelegten Debatte vorbei, um eine ganze Reihe von Institutionen von Grund auf neu zu denken und sie dann – wenn nötig – neu zu schaffen. Institutionen, die es bereits gibt, und solche, die es braucht, um die großen Probleme meistern zu können. Um ein Beispiel für Letzteres zu nennen: ein Supply Chain Institute, das in der Lage ist, die Lieferketten der EU zu kennen und als digitalen Zwilling abzubilden. Diese Datengrundlage würde ein Monitoring der Basisversorgung (Nahrung, Medikamente, Energie) gewährleisten, die Schwachstellen in den Lieferketten frühzeitig aufzeigen, die strategische Bedeutung von Rohmaterialien, Produkten und Dienstleistungen sichtbar und Firmen ihre Abhängigkeiten von ihren Zulieferern bewusst machen, sie würde Steuerhinterziehung systematisch unterbinden etc. Eine solche Datengrundlage könnte dank neu geschaffener Transparenz und neuer Spielregeln die Gründung Hunderter Start-ups bewirken, deren Beiträge die Wirtschaft grüner, nachhaltiger und resilienter machen.
Ein anderes Beispiel: Ein datenbasierter Gesundheitsdienst (zum Beispiel nach finnischem Vorbild), der auf sämtliche nationale (oder EU-weite) Daten aus dem Gesundheitsbereich Zugriff hat und zum Nutzen der Patient:innen (bessere Behandlungen, zielgerichtetere personalisierte Medikation), der Ärzt:innen (bessere Diagnosen, maschinelle Unterstützung) und des Gesundheitssystems (gesündere Menschen, weniger Stress für die im Gesundheitssystem Tätigen) aufbereitet und bereitstellt.
Um der institutionellen Krise zu begegnen, wird es zentral sein, eine Vielzahl neuer öffentlicher Datenbasen zu schaffen, auf denen diese neuen und erneuerten Institutionen aufgebaut sind und operieren können: digital, transparent und interinstitutionell. Digital, um Informationen vollständig zugänglich zu machen (mit vollständiger Information sind komplexe Systeme manchmal wenigstens ein bisschen beherrschbarer); transparent, damit viele Akteure mitdenken und miteinander kommunizieren können, und interinstitutionell, da die großen Probleme allesamt fächerübergreifend sind und daher institutionsübergreifend bearbeitbar sein müssen. Das Neudenken der Institutionen bedeutet konkret auch das Ende der derzeitigen Datensilos, die jedes holistischere Bild verunmöglichen. Ohne digital, transparent und interinstitutionell zu sein, bleibt evidence-based Policy, was es ist : ein Fremdwort.
Die globale Wirtschaft als Monster?
Vor allem: Was wäre die Alternative? Schaffen wir es nicht, unsere Institutionen so aufzustellen, dass sie ihre Aufgaben zeitgemäß erfüllen, und zwar bevor uns die Zeit und andere Wirtschaftsregionen eingeholt haben, wäre das fatal. Das hieße wohl, das „Neudenken“der Institutionen den Nationalpopulisten zu überlassen, deren Ziel es bekanntlich ist, sie erst einmal zu zerschlagen. Wohin das führt, hat Joe Biden vor Kurzem deutlich benannt: Faschismus. Als Optimist diese Möglichkeit einmal ausblendend, bin ich überzeugt, dass der einzige Ausweg lautet, unsere Institutionen wieder in Schwung zu bekommen. Sonst wird die globale Wirtschaft – und mit ihr die Gesellschaft – tatsächlich zu dem Monster, dessen Umrisse wir bereits am Horizont sehen: im Westen wie im Osten.
Wir dürfen das „Neudenken“der Institutionen nicht den Nationalpopulisten überlassen, deren Ziel es ist, sie zu zerschlagen.