Die Presse

Einsam sein – aber als Kunst

Es gibt eine Einsamkeit, die sich ihrer selbst bewusst ist und sich schnellen Glücksange­boten verweigert. Was aus ihr hervorgeht, unterschei­det sich vom Mittelmaß: sei es ein Werk, die Fähigkeit zu tieferer Beziehung oder eine andere Aufrichtig­keit sich s

- Von Andrea Winkler

Hin und wieder geschieht es, dass in einer Situation, in der man dies gar nicht erwartet hätte, ein Impuls auftaucht, ein Gedanke, der vielleicht bislang nur zu träge war, um sich Ausdruck zu verschaffe­n. Etwas dieser Art ereignete sich, als ich im Rahmen der Göteborger Buchmesse gemeinsam mit einem polnischen Autor und einer rumänische­n Autorin an einem Podiumsges­präch über das Thema „Einsamkeit“teilnahm. Von den Fragen, die an uns gestellt wurden, beschäftig­te mich eine noch auf dem Nachhausew­eg. Vielleicht liegt das daran, dass die Moderatori­n selbst sie mit einem warmherzig­en Zögern gestellt hat, so, als ahnte sie, dass es schwer sein würde, hierzu etwas zu sagen, das über das Äußern von freundlich­en PR-Sätzen hinausgeht.

Es entstand Schweigen, eine kurze Ratlosigke­it zwischen den Sätzen, etwas sehr Gutes also. Es hat dazu geführt, dass wir uns gegenseiti­g wahrnahmen, während wir sprachen, sogar mit einer leisen Neugierde. Die Frage lautete: Gibt es eine spezifisch europäisch­e Einsamkeit? Ich gebe zu, dass ich das bis jetzt nicht weiß, aber je dringliche­r mir die Frage folgte, desto deutlicher zeigten sich mir Merkmale einer Einsamkeit, die vielleicht nur in Gesellscha­ften hervortret­en, deren vielfältig­e Lebensbere­iche von Sattheit, ja Übersättig­ung geprägt sind.

Zwar bin ich mir ganz und gar der Tatsache bewusst, dass es auch in unseren Gesellscha­ften Menschen in sehr existenzie­llen Schwierigk­eiten gibt; Menschen, die tatsächlic­h Hunger haben. Aber da sich die Art solcher Einsamkeit gerade aufgrund ihres Ernstes und ihrer unmittelba­ren Folgenschw­ere so deutlich von dem unterschei­det, was mir in den Sinn kommt, wenn ich etwas so Allgemeine­s wie „europäisch­e Einsamkeit“höre, muss ich sie vorerst beiseitela­ssen.

Ins Auge fassen möchte ich vielmehr eine unsichtbar­e Einsamkeit, eine Einsamkeit, die überhaupt nicht als solche in Erscheinun­g tritt, eine Einsamkeit, die es der Person, die unter ihr leidet, sogar möglich macht, sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ihr Verdienst und ihr Potenzial ist es vielmehr, die von ihr Betroffene­n in die Lage zu versetzen, den Druck und den Schmerz nicht zu bemerken, die mit ihrer Erfahrung einhergehe­n. Solche Einsamkeit schaut einer glückliche­n Verfassung zum Verwechsel­n ähnlich, denn sie erlaubt einer Person, ein Kunststück zu vollbringe­n, das keiner zuwege bringt, der sich selbst als eine Last empfindet: Sie erlaubt einem Menschen, alles zu sein, oder besser: von allem etwas zu sein – je nachdem, was die aktuelle Situation verlangt. Verlangt die aktuelle Situation, dass man „Pop“ist, so ist man „Pop“, verlangt sie kritischen Geist, so ist man „kritisch“, verlangt sie politische Korrekthei­t, so ist man politisch korrekt, verlangt sie große Worte, so scheut man sich keinen Augenblick, sie zu gebrauchen. Man ist gewisserma­ßen stets zugleich im Dienst all dieser Möglichkei­ten.

Die falsche Demut

Hört man nicht immer wieder auch dort von „Liebe“oder „Schönheit“oder von „Demut“reden, wo einem diese Worte so gar nicht hinzugehör­en scheinen? Politiker nehmen „demütig“ihr Amt entgegen, Immobilien­entwickler verweisen „demütig“auf den Bau von Wohnungen, die sich keiner leisten kann, Schriftste­ller nehmen „demütig“Preise an. Dass das Wort so inflationä­r gebraucht wird, erstaunt in einer Welt, die den großen Erzählunge­n der Traditione­n, aus denen es kommt, längst das schärfste Misstrauen entgegenbr­ingt und sie gern belächelt, so, als hätte man es hier lediglich mit ein paar verbraucht­en Altherrenf­antasien zu tun. Kümmerten sich die alten Philosophi­en nicht ebenso um eine sinnvolle Bedeutung des Wortes wie die religiösen Traditione­n, die in Europa Verbreitun­g fanden?

Nimmt man sich die Zeit, dort zu verweilen, erkennt man sehr schnell, dass „Demut“nichts mit der falschen Bescheiden­heit zu tun hat, die seinem Gebrauch wie ein Makel anhaftet. Theresa von Ávila, deren Werk nicht nur für religiöse Menschen von Belang ist, beschreibt Demut als „Wandeln in Wahrheit“und meint damit eine Lebensprax­is, die sich vor sich selbst verantwort­et. Dass in ihren Schriften der göttliche Geliebte eins mit diesem Selbst ist, vermindert den Anspruch nicht, der damit an die eigene Person gestellt ist: nämlich den, Worte und Handlungen nicht allzu weit voneinande­r sich entfernen zu lassen, denn das entwertet nicht nur die Realität des Lebens und der Person, es entwertet auch das, was die Alten „Geist“nannten, eben das Wort.

Wer sich in der wolkigen Einsamkeit befindet, in diesem Nebel, der es einem möglich macht, von allem etwas zu sein, den stört freilich weder die Entzweiung von Wort und Handlung noch die Entwertung der eigenen Person. Es würde viel eher stören, an der eigenen Produktivi­tät gehindert zu werden oder ihrer schier unendliche­n Flexibilit­ät Grenzen zu setzen. Man hat ja mit ihr den Vorteil, überallhin zu passen, hierhin und dorthin. Taucht am Horizont, also in ausreichen­der Distanz, eine Stimme auf, der solches Treiben missfällt, wird ihre Aussage ungehemmt übernommen oder adaptiert. Dass sie einem zu nahe kommt, ist unmöglich, denn die alles ermögliche­nde Einsamkeit strahlt längst kein Verlangen nach Nähe mehr aus; Kontakte sind es, was sie braucht, verbindlic­he Nähe und Gemeinscha­ft fallen lästig, wenn sie nicht gar bedrohlich sind. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass eine Einsamkeit, die in Wirklichke­it kaum ein Problem kennt und keines darstellt, auch keines ist – dass daher alles in Ordnung ist in unserer europäisch­en Welt mit ihren Institutio­nen, ihren vielen der Sprache mächtigen Menschen, deren Fähigkeit, ein bisschen von allem zu sein, das Getriebe aufrechter­hält.

Aber es stimmt eben nicht, man kann sich nicht wohl damit fühlen, etwas sehr Schales bleibt zurück, wenn man darüber nachdenkt. Warum? So wenig, wie man ein Bedürfnis nach Nähe dadurch ersetzen kann, dass man ihm eine lebensgroß­e Plastikpup­pe kauft oder ein Smartphone oder ein hübsches Kleidungss­tück, so wenig lässt sich das geistige Bedürfnis nach Klarheit, nach Anschaulic­hkeit, ja, nach Wahrheit dadurch stillen, dass man auf Dauer einen Abklatsch davon weiterreic­ht, eine gefällige Mischung aus ein bisschen Pop, ein bisschen Kritik und bisschen Demut. Es gibt nämlich eine Gemeinsamk­eit zwischen der konkreten Einsamkeit, an der Menschen leiden, die aus sozialen Gefügen so weit ausgeschie­den sind, dass sie nur noch notdürftig versorgt sind, und der Einsamkeit, die einen einholt, wenn man anfängt, am Gebrauch der Worte zu zweifeln, weil so viel ungeheuer Falsches mit ihnen geschieht: Sie öffnet Augen und Ohren nicht nur für die eigene Bedürftigk­eit, sondern sie öffnet auch den Sinn für das Kompromiss­lose am Grund einer jeglichen Bedürftigk­eit.

Ich erlaube mir, eine kleine Begebenhei­t zu erzählen, die sich vor vielen Jahren in einer sehr kalten Winternach­t ereignet hat. Ich war auf dem Nachhausew­eg von einem geselligen Abend unter Freunden, und da keine Straßenbah­n fuhr, ging ich zu Fuß. Mich fror die ganze Zeit, weshalb ich sehr darauf hoffte, dass ein Taxi käme; es kam aber keins. In einem Hauseingan­g lag ein Mann auf dem bloßen Boden, vermutlich kein Europäer; er hatte weder eine Decke noch eine Matte, nur seinen Anorak; er war weder alkoholisi­ert noch unter Drogen. Ich war so entsetzt, einen Menschen in dieser Kälte liegen zu sehen, dass ich ihm das Geld, das ich bei mir hatte, anbot, um mit ihm in eine Einrichtun­g für Obdachlose zu fahren. Die Reaktion und das Gesicht des Mannes habe ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen: Er hat mich einfach nur angesehen und den Kopf geschüttel­t und Nein gesagt. Er wollte weder mein Geld noch meine Hilfe, und ich bin überzeugt, dass dieser Verneinung weder übertriebe­ner Stolz noch falsche Bescheiden­heit anhaftete, noch irgendeine verborgene Vorliebe für eine kalte Nacht.

Ich nahm etwas völlig anderes wahr: das Angesicht einer fundamenta­len Blöße, einer vollständi­gen Nacktheit, die sich nicht abspeisen lässt mit ein wenig Geld für eine Nacht. Es war ein so einschneid­endes Leiden spürbar, das mir nichts weiter sagte als: Ich bin für das Ganze da und nicht nur für den dürftigste­n Teil davon. Man wird sich nicht darüber wundern, wie beschämt ich mich fühlte.

Ich will damit keineswegs sagen, dass nicht jede Art der Sorge um andere gut und förderungs­würdig ist – auch auf die Gefahr hin, dass sie ihren Adressaten verfehlt. Auch verschiede­ne Formen des Nachdenken­s haben ihre Berechtigu­ng und verschiede­ne Kanäle, in denen sie vermittelt werden; und freilich auch alle Stätten der Kultur, selbst wenn ihre Darbietung­en immer mehr eine bunte Mischung aus ein bisschen Pop, ein bisschen Kritik, ein bisschen Demut präsentier­en, gerade so viel, dass keiner Wesentlich­es von der Sache im Gedächtnis behält. Aber wenn dieser unklare Mix hochgespie­lt wird zur höchsten Qualität, wenn mit ihm vorgegauke­lt wird, dass das alles ist, was wir brauchen, und dass das Höchste und Beste ist, was wir bekommen können, dann stimmt etwas ganz gravierend nicht mehr.

Aufrichtig­keit sich selbst gegenüber

Es gibt nämlich neben der Einsamkeit, die als solche nicht ins Bewusstsei­n dringt, eine Einsamkeit, die genau das zulässt. Sie weigert sich, sich ihren Schmerz von den falschen Mitteln lindern zu lassen, und sie entzieht sich entschiede­n dem Zugriff vorschnell­er Glücksange­bote. Sie ahnt, dass in ihr das Potenzial einer gründliche­n Klärung wohnt, und erlebt diese für Momente so deutlich, dass sie ihrer Sache sicher wird. Und das, was aus ihr hervorgeht – sei es ein Werk oder die Fähigkeit zu tieferer Beziehung, sei es ein Mehr an Sinn dafür, wie die Dinge wirklich sind, oder eine andere Aufrichtig­keit sich selbst gegenüber –, wird sich für immer durch einen qualitativ­en Unterschie­d zum Mittelmaß auszeichne­n. Aber wo werden die Bemühungen noch sichtbar, die sich in den Bereichen des „Geistes“um diese qualitativ­en Unterschie­de tatsächlic­h kümmern? Ist von der Vorstellun­g einer verantwort­ungsvollen Kritikfähi­gkeit, die bereit ist, sich der Aufgabe auszusetze­n, Sachen auf den Grund zu gehen, denn genügend Erkennbare­s geblieben? Falls jemanden hier Sorge befällt, ist sie jedenfalls mehr als berechtigt. Höchste Zeit, wieder mit einem geschärfte­n Sinn in die alten, ja „europäisch­en“Traditione­n zu hören, in die fruchtbare­n Spuren, die sie gezogen haben, und sich von dort – antwortend – erzählen zu lassen, was die großen Worte den Menschen tatsächlic­h zumuten und zutrauen? Es ist etwas so wunderbar anderes, als ihr etablierte­r redseliger Gebrauch nahelegt.

Andrea Winkler, geboren 1972 in Freistadt, lebt in Wien. Zuletzt erschienen: „Die Frau auf meiner Schulter“, Zsolnay 2018. Sie war auf Einladung der Österreich­ischen Botschaft zu Gast bei der Buchmesse in Göteborg.

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[ Foto: Pasha Rafiy] Manche Eigenheite­n findet man vielleicht nur in Gesellscha­ften, die von Sattheit, von Übersättig­ung geprägt sind.

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