Teilzeit in der Gosse
Beim Marktamt auf der Kettenbrücke, an dem ich auf dem Weg zum Einkaufen beinahe täglich vorbeiging, befand sich eine große Müllstation mit mehreren Papiercontainern. Dort stieß ich eines Tages auf fünf hier als Abfall hingestellte Bananenkartons mit Büch
Es fehlt nicht viel, dann sind es drei Jahrzehnte, seit es angefangen hat. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, strebte keine Anstellung an, weil ich Schriftsteller werden wollte, und lebte in Wien in einem Haus, das dem Aussehen nach kurz vor dem Abriss stand. In diesem heruntergekommenen Haus bewohnte ich eine heruntergekommene Wohnung, dreißig Quadratmeter, bestehend aus einer engen Küche und einem an die Küche anschließenden Zimmer. Dieses Zimmer hatte die Aufgaben von Wohn-, Arbeits-, Ess- und Schlafraum zu erfüllen. Das Klo auf dem Gang teilte ich mit den Nachbarn. (. . .)
Die Wohnung wirkte nach außen hin deprimierend mit den von meinen Eltern abgelösten, zweieinhalb Meter hohen Schrankwänden und dem alten Bettüberwurf. Aber ich betrachtete sie als mein Zuhause und schätzte mich glücklich, dass ich diesen Ort hatte und eine Tür, die ich hinter mir schließen konnte. Oft lernte ich für Prüfungen, oft schrieb ich an einem Roman. Ich hatte eine Freundin, M., sie gab sich Mühe, das von mir Geschriebene zu lesen, schlief aber meistens darüber ein. Ich merkte es, wenn ich, am Schreibtisch sitzend, in meinem Rücken kein Blättern mehr hörte. M. schlief sehr still. Brauchte ich selbst etwas zum Lesen, ging ich auf den Flohmarkt. Dann kehrte ich nicht mit einem, sondern mit zehn Büchern zurück. Mir erschien die Zukunft so ungeheuer groß und weit, dass ich bedenkenlos auf Vorrat kaufte. Dabei war ich eigensinnig genug, das Ausgefallene dem Gängigen vorzuziehen.
Im Rückblick, in der Sturzflut der Tage, ich muss sagen: M. und ich waren Kinder der Provinz, unsicher und fleißig. Schmusen und Herumhängen fanden wir schön, hielten es aber nicht lange durch. Wir praktizierten auch das Schmusen und Herumhängen mit Konzentration, nicht, wie andere, mit Ausdauer. Wir waren ständig in Bewegung, neugierig, auf unser Weiterkommen bedacht.
Einfach wie Messer und Gabel
Beim Marktamt auf der Kettenbrücke, an dem ich auf dem Weg zum Einkaufen beinahe täglich vorbeiging, befand sich eine große Müllstation mit mehreren Papiercontainern. Dort stieß ich eines Tages auf fünf hier als Abfall hingestellte Bananenkartons mit Büchern. Ein Zufall. Oder scheint es nur so? Vielleicht ist Zufall allein nicht das richtige Wort, denn ich war so begeistert von der großen Stadt, dass ich meine Augen immer offen hatte. Früher oder später musste es so kommen.
Von der U-Bahn-Station winkte ich ein Taxi herüber und ließ mich mit den Kartons zu meiner Wohnung fahren. Zu Hause zog ich die Deckel der Kartons mit Herzklopfen hoch. Dieses spezifisch scheuernde Geräusch des Kartons habe ich noch immer in den Ohren. Ich erinnere mich an Felix Dahn, Ein Kampf um Rom, an Johanna Spyri, Heidi, und an einen noch heute sich in meinem Regal schmal machenden Katalog über Plakate zu Ausstellungen von Joseph Beuys. „Zeige deine Wunde!“
An diesem Tag kam ich mit den Möglichkeiten, die eine öffentliche Müllstation bergen kann, in Fühlung. Und immer, wenn ich fortan an dieser Müllstation vorbeiging, spähte ich in die Papiercontainer. Erstaunlich oft fand ich etwas, nach dem ich mich streckte, Bücher, Fotografien, Zeitschriften und Zeitungen. Eine FAZ war für mich ein Wertgegenstand.
Was der Feuerfunke auf ein geladenes Gewehr, ist die Gelegenheit zur Neigung. Ich dachte, warum nur in den einen Papiercontainer schauen, wenn es in der Stadt abertausende gibt. So kam es, dass ich vom guten Weg abwich und aufs Geratewohl losmarschierte auf ein Terrain, das gekennzeichnet ist von Schmutz und fehlender Schicklichkeit. Ich geriet in etwas hinein, das sich zunächst als Irrsinn erwies und später als eine gute Sache
Wenn man jung ist, ist alles einfach wie Messer und Gabel, wie das Gras auf der Wiese, wie die Taube auf dem Dach. Ich dachte mir nicht viel dabei, wenn ich, bekleidet mit meiner ältesten Jeans und einer strapazierfähigen Jacke, die Straßen entlangtrottete und zwischendurch drei Bücher in meinen Rucksack schob. Während des Gehens überarbeitete ich meine beiden mit Anfang zwanzig geschriebenen Romane, die ich auswendig kannte. Oder ich ließ eine lethargische Stimme in meinem Kopf über Vergangenheit und Zukunft räsonieren. Oder ich brachte diese Stimme zum Verstummen, indem ich Gedichte aufsagte.
Dreckig wie ein Schwein
Das Gehen war in meinen Augen eine gesunde Sache, mehrere Stunden an der frischen Luft bei leicht erhöhtem Puls. Das viele Bücken und Tauchen in die Tiefen der Behältnisse und das Umdrehen nach links und rechts, um zu sehen, ob sich von hinten jemand nähert, war gut für den Rücken. Am Schreibtisch wird man steif und einseitig.
Nach etwa vier Stunden kehrte ich erschöpft nach Hause zurück. M., die mittlerweile bei mir eingezogen war und mithalf, die Wohnverhältnisse zu beengen, begrüßte mich mit einem strengen Blick. Sie hatte sehr lange, glamouröse Wimpern und auffallend dunkle Augen. Sie sagte:
„Du siehst aus wie ein Räuberhauptmann.“
„Ja?“
„Man muss sich regelrecht schämen für dich.“
Tatsächlich erhob die Kleidung, die ich trug, keinen Anspruch auf Eleganz. Zum Ende einer Runde präsentierte ich mich meistens in einem beklagenswerten Zustand, dreckig wie ein Schwein. Das war aber nicht der einzige Grund, weshalb M. meine Ausflüge missfielen. Wir waren Mittelstandskinder aus dem wohlhabenden Westen Österreichs, unweit der Schweizer Grenze, wo nicht nur das Gras fett ist.
Immer wieder erstaunlich, wie doch jeder Mensch an seine Vergangenheit gebunden ist. Mit meinem Stöbern in Dingen, die andere weggeworfen hatten, verstieß ich gegen die Konventionen meiner Herkunft. Wo M. und ich herkamen, besaßen die Menschen ein grundsätzliches Bedürfnis, die Form zu wahren. Dort schätzte man die Verfechter von Gepflogenheiten mehr als diejenigen, die sich darüber hinwegsetzen. Und genau genommen waren die Menschen in Wien nur wenig besser. Der manchmal geradezu chinesisch anmutende Hang zur Etikette, dem ich in Wien begegnete, ermunterte ebenfalls nicht zum Sprung über alle Schranken.
Wenn ich zur Ablenkung einen Band mit Gedichten von Sergej Jessenin aus meinem Rucksack zog, war auch M.s Neugier geweckt. Ich las ihr das auf den Einband des Buches gedruckte Gedicht vor, und sie hob ihre glamourösen Wimpern:
„Schon verrückt, dass jemand das wegwirft.“
„Und ich sah durch Nebelhüllen / gestern, als der Busch mir flirrte, / wie der Mond, das rote Füllen, / sich an unsern Schlitten schirrte.“
Um nicht weiter diskutieren zu müssen, verdrückte ich mich unter die Dusche, die ganz hinten in die Küche gezwängt war. Anschließend verschlang ich vier oder fünf Brote mit Dauerwurst, von der mir meine Mutter regelmäßig eine Stange schickte. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch.
Ich hatte Freude an meinen Streifzügen. Ich mochte das stundenlange Gehen und das Unabsehbare bei dem, was mir begegnete. Jede Runde war etwas zunächst Verschlossenes, ein latentes Geheimnis: Was finde ich diesmal? Etwas Großartiges? Oder nichts? Im Übrigen wusste ich es zu schätzen, dass mir die Runden halfen, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich stand kurz vor dem Abschluss des Studiums und war mir weitgehend darüber im Klaren, dass mein Entschluss, Schriftsteller zu werden, mit Gefahren verbunden war.
Schreiben bis zum Zentralfriedhof
Schreibend setzte ich auf ein Spiel, dessen Regeln ich nicht kannte. Ich wusste lediglich aus der Lektüre einschlägiger Biografien, dass dieses Spiel für Verlierer eine besondere Strafe bereithält: echtes Scheitern. Deshalb arbeitete ich mit dem guten Willen eines jungen Menschen, der weiß, dass sein Unternehmen schiefgehen wird, wenn er nicht sein Bestes gibt. Aber mulmig war mir bis hin zur Angst. Entsprechend beruhigend fand ich es, dass ich neben meinem Sommerjob als Technikgehilfe bei den Festspielen in Bregenz jetzt auch in Wien einen kleinen Nebenerwerb hatte.
In überraschender Regelmäßigkeit stieß ich auf große Mengen teils wertvoller Bücher, Briefmarkensammlungen, historische Wertpapiere, alte Comics, alte Autoprospekte, Druckgrafiken und Plakate, die ich ins Auktionshaus trug. Zum Verkauf des weniger Wertvollen stellten M. und ich uns dreimal im Jahr auf den Flohmarkt. Dabei blieb ich ohne Verpflichtung, ohne Bindung an einen Dienstgeber, unabhängig und frei für das Schreiben. Die nie verebbende Versorgung mit Postkarten, Kuverts und kleinen Büroartikeln war mir von angenehmem Nutzen. Zum Ausdrucken meiner Texte verwendete ich nicht mehr gekauftes, sondern gefundenes Papier, Geschäftspapier der Firma Strohbach & Pötscher. Davon besaß ich große Mengen. Herr Klimsza, der unmittelbare Nachbar, ein Bäcker, sah das Papier in Stapeln bei mir liegen und sagte:
„Arno, damit kannst du schreiben bis zum Zentralfriedhof.“
Was dem Pharao gehört
Ich las irrsinnig viel, ich las buchstäblich, was mir der Zufall auf den Schreibtisch warf. Damals machte ich meine Runde Montagvormittag. Irgendetwas fand ich fast immer. Und bis zum nächsten Montag war das Gefundene gelesen, das kam oft vor.
Vom Markt trug ich argentinische Birnenkisten nach Hause. Genagelt aus Leichtholz und klein im Format, ließen sie sich zu einem ständig erweiterbaren Bücherregal stapeln. Einen der fast drei Meter hohen Schränke räumten M. und ich frei, er bekam einen Namen und hieß fortan Geschäft. Dort deponierten wir die Bananenkartons mit den für den Flohmarkt bestimmten Büchern.
Als M. und ich am Abend nach unserem ersten Verkauf das Geld zählten, hatten wir sechstausend Schilling eingenommen – ungefähr die sechsfache Monatsmiete. Durch die Brille der mir gesetzten finanziellen Möglichkeiten blickend war es, als hätte ich ein Pharaonengrab entdeckt. Das Wort Papier kommt von Papyrus. Auf Papyrus hatte der Pharao ein Privileg. Papier bedeutet in seinem Wortstamm sinngemäß: Was dem Pharao gehört. (...)
M. unterstützte mich bei diesen Verkäufen, sie deckte mein Geheimnis. Trotzdem blieb sie bei ihren Vorbehalten, meine Runden waren ihr nicht geheuer. Ganz wohl war auch mir nicht, wenngleich ich mich hütete, das Thema anzusprechen, es war so ein Gefühl, dass an der Sache etwas Schmuddeliges ist, man wühlt nicht im Abfall anderer Menschen. Überdies war anzunehmen, dass mein Räuberzivil, wenn ich unterwegs war, tatsächlich abgerissener aussah, als ichs mir zugeben wollte. Die eigene Abgerissenheit hält man ja leicht für pittoresker als die der anderen. Wenn M. wieder sagte, ich sähe aus wie ein Strolch, mein Gott, ein Junge mit deinem Verstand! – dann spürte ich die Scham. Dann spürte ich die Verletzung meiner sozialen Selbstansprüche. Ich rückte gerade in erster Generation unter die Akademiker auf und wurde die konventionellen Vorstellungen von dem, wie sich ein zu akademischen Ehren gekommener junger Mensch zu verhalten hat, nicht so leicht los. Dass ich mich jetzt Teilzeit in die Gosse warf, empfand auch ich insgeheim als Grenzüberschreitung nach unten. Wer tat, was ich tat, war nach dem Sittenmaß der damaligen Zeit sozial markiert und gehörte zum gesellschaftlichen Bodensatz.
Eine Weltstadt ist kein Kasernenhof
Interessanterweise hatte ich es nicht mit einem Verbot zu tun, sondern mit einem Tabu. Ein Tabu betrifft ja zuweilen ganz harmlose Dinge wie Rotzfressen in der Öffentlichkeit. Man schämt sich für das genüssliche Rotzfressen, wenn man dabei ertappt wird, mitunter mehr als für das Ignorieren einer roten Ampel. Ein Tabu bezeichnet die Grenze des Vertretbaren. Aber weder ist diese Grenze genau definiert noch erfolgt gegen einen Verstoß eine bestimmte vorgesehene Sanktion. Es ist lediglich eine Frage der Schicklichkeit.
Während meiner Runden begegnete ich oft Behördenvertretern, sie nahmen an dem, was ich tat, nicht den geringsten Anstoß – derlei gehört zum Stadtbild. Wenn man wie Wien Weltstadt sein will, muss man sich gewisse Dinge gefallen lassen, eine Weltstadt ist kein Kasernenhof. Doch hätte ich meinen Eltern offenbart, dass ich mich wöchentlich einmal einen halben Tag lang durch den papierenen Abfall dieser Welt grub, wäre meine Mutter, nehme ich an, unglücklich gewesen und mein Vater, nehme ich an, ernüchtert. Die beiden hatten viel Geld aufbringen müssen, um allen vier Kindern eine höhere Bildung zu ermöglichen. Und jetzt das!
Ja, gut. Der Verzicht auf Bewunderung verschafft einen Zugewinn an Freiheit. Das gilt in vielen Lebensbereichen und natürlich auch für das Schreiben.