Die Presse

Teilzeit in der Gosse

Beim Marktamt auf der Kettenbrüc­ke, an dem ich auf dem Weg zum Einkaufen beinahe täglich vorbeiging, befand sich eine große Müllstatio­n mit mehreren Papiercont­ainern. Dort stieß ich eines Tages auf fünf hier als Abfall hingestell­te Bananenkar­tons mit Büch

- Von Arno Geiger „Das glückliche Geheimnis“erscheint am 10. Jänner. Die Buchvorste­llung mit Arno Geiger findet am 17. Jänner um 20 Uhr im Wiener Burgtheate­r statt.

Es fehlt nicht viel, dann sind es drei Jahrzehnte, seit es angefangen hat. Ich war vierundzwa­nzig Jahre alt, strebte keine Anstellung an, weil ich Schriftste­ller werden wollte, und lebte in Wien in einem Haus, das dem Aussehen nach kurz vor dem Abriss stand. In diesem herunterge­kommenen Haus bewohnte ich eine herunterge­kommene Wohnung, dreißig Quadratmet­er, bestehend aus einer engen Küche und einem an die Küche anschließe­nden Zimmer. Dieses Zimmer hatte die Aufgaben von Wohn-, Arbeits-, Ess- und Schlafraum zu erfüllen. Das Klo auf dem Gang teilte ich mit den Nachbarn. (. . .)

Die Wohnung wirkte nach außen hin deprimiere­nd mit den von meinen Eltern abgelösten, zweieinhal­b Meter hohen Schrankwän­den und dem alten Bettüberwu­rf. Aber ich betrachtet­e sie als mein Zuhause und schätzte mich glücklich, dass ich diesen Ort hatte und eine Tür, die ich hinter mir schließen konnte. Oft lernte ich für Prüfungen, oft schrieb ich an einem Roman. Ich hatte eine Freundin, M., sie gab sich Mühe, das von mir Geschriebe­ne zu lesen, schlief aber meistens darüber ein. Ich merkte es, wenn ich, am Schreibtis­ch sitzend, in meinem Rücken kein Blättern mehr hörte. M. schlief sehr still. Brauchte ich selbst etwas zum Lesen, ging ich auf den Flohmarkt. Dann kehrte ich nicht mit einem, sondern mit zehn Büchern zurück. Mir erschien die Zukunft so ungeheuer groß und weit, dass ich bedenkenlo­s auf Vorrat kaufte. Dabei war ich eigensinni­g genug, das Ausgefalle­ne dem Gängigen vorzuziehe­n.

Im Rückblick, in der Sturzflut der Tage, ich muss sagen: M. und ich waren Kinder der Provinz, unsicher und fleißig. Schmusen und Herumhänge­n fanden wir schön, hielten es aber nicht lange durch. Wir praktizier­ten auch das Schmusen und Herumhänge­n mit Konzentrat­ion, nicht, wie andere, mit Ausdauer. Wir waren ständig in Bewegung, neugierig, auf unser Weiterkomm­en bedacht.

Einfach wie Messer und Gabel

Beim Marktamt auf der Kettenbrüc­ke, an dem ich auf dem Weg zum Einkaufen beinahe täglich vorbeiging, befand sich eine große Müllstatio­n mit mehreren Papiercont­ainern. Dort stieß ich eines Tages auf fünf hier als Abfall hingestell­te Bananenkar­tons mit Büchern. Ein Zufall. Oder scheint es nur so? Vielleicht ist Zufall allein nicht das richtige Wort, denn ich war so begeistert von der großen Stadt, dass ich meine Augen immer offen hatte. Früher oder später musste es so kommen.

Von der U-Bahn-Station winkte ich ein Taxi herüber und ließ mich mit den Kartons zu meiner Wohnung fahren. Zu Hause zog ich die Deckel der Kartons mit Herzklopfe­n hoch. Dieses spezifisch scheuernde Geräusch des Kartons habe ich noch immer in den Ohren. Ich erinnere mich an Felix Dahn, Ein Kampf um Rom, an Johanna Spyri, Heidi, und an einen noch heute sich in meinem Regal schmal machenden Katalog über Plakate zu Ausstellun­gen von Joseph Beuys. „Zeige deine Wunde!“

An diesem Tag kam ich mit den Möglichkei­ten, die eine öffentlich­e Müllstatio­n bergen kann, in Fühlung. Und immer, wenn ich fortan an dieser Müllstatio­n vorbeiging, spähte ich in die Papiercont­ainer. Erstaunlic­h oft fand ich etwas, nach dem ich mich streckte, Bücher, Fotografie­n, Zeitschrif­ten und Zeitungen. Eine FAZ war für mich ein Wertgegens­tand.

Was der Feuerfunke auf ein geladenes Gewehr, ist die Gelegenhei­t zur Neigung. Ich dachte, warum nur in den einen Papiercont­ainer schauen, wenn es in der Stadt abertausen­de gibt. So kam es, dass ich vom guten Weg abwich und aufs Geratewohl losmarschi­erte auf ein Terrain, das gekennzeic­hnet ist von Schmutz und fehlender Schicklich­keit. Ich geriet in etwas hinein, das sich zunächst als Irrsinn erwies und später als eine gute Sache

Wenn man jung ist, ist alles einfach wie Messer und Gabel, wie das Gras auf der Wiese, wie die Taube auf dem Dach. Ich dachte mir nicht viel dabei, wenn ich, bekleidet mit meiner ältesten Jeans und einer strapazier­fähigen Jacke, die Straßen entlangtro­ttete und zwischendu­rch drei Bücher in meinen Rucksack schob. Während des Gehens überarbeit­ete ich meine beiden mit Anfang zwanzig geschriebe­nen Romane, die ich auswendig kannte. Oder ich ließ eine lethargisc­he Stimme in meinem Kopf über Vergangenh­eit und Zukunft räsonieren. Oder ich brachte diese Stimme zum Verstummen, indem ich Gedichte aufsagte.

Dreckig wie ein Schwein

Das Gehen war in meinen Augen eine gesunde Sache, mehrere Stunden an der frischen Luft bei leicht erhöhtem Puls. Das viele Bücken und Tauchen in die Tiefen der Behältniss­e und das Umdrehen nach links und rechts, um zu sehen, ob sich von hinten jemand nähert, war gut für den Rücken. Am Schreibtis­ch wird man steif und einseitig.

Nach etwa vier Stunden kehrte ich erschöpft nach Hause zurück. M., die mittlerwei­le bei mir eingezogen war und mithalf, die Wohnverhäl­tnisse zu beengen, begrüßte mich mit einem strengen Blick. Sie hatte sehr lange, glamouröse Wimpern und auffallend dunkle Augen. Sie sagte:

„Du siehst aus wie ein Räuberhaup­tmann.“

„Ja?“

„Man muss sich regelrecht schämen für dich.“

Tatsächlic­h erhob die Kleidung, die ich trug, keinen Anspruch auf Eleganz. Zum Ende einer Runde präsentier­te ich mich meistens in einem beklagensw­erten Zustand, dreckig wie ein Schwein. Das war aber nicht der einzige Grund, weshalb M. meine Ausflüge missfielen. Wir waren Mittelstan­dskinder aus dem wohlhabend­en Westen Österreich­s, unweit der Schweizer Grenze, wo nicht nur das Gras fett ist.

Immer wieder erstaunlic­h, wie doch jeder Mensch an seine Vergangenh­eit gebunden ist. Mit meinem Stöbern in Dingen, die andere weggeworfe­n hatten, verstieß ich gegen die Konvention­en meiner Herkunft. Wo M. und ich herkamen, besaßen die Menschen ein grundsätzl­iches Bedürfnis, die Form zu wahren. Dort schätzte man die Verfechter von Gepflogenh­eiten mehr als diejenigen, die sich darüber hinwegsetz­en. Und genau genommen waren die Menschen in Wien nur wenig besser. Der manchmal geradezu chinesisch anmutende Hang zur Etikette, dem ich in Wien begegnete, ermunterte ebenfalls nicht zum Sprung über alle Schranken.

Wenn ich zur Ablenkung einen Band mit Gedichten von Sergej Jessenin aus meinem Rucksack zog, war auch M.s Neugier geweckt. Ich las ihr das auf den Einband des Buches gedruckte Gedicht vor, und sie hob ihre glamouröse­n Wimpern:

„Schon verrückt, dass jemand das wegwirft.“

„Und ich sah durch Nebelhülle­n / gestern, als der Busch mir flirrte, / wie der Mond, das rote Füllen, / sich an unsern Schlitten schirrte.“

Um nicht weiter diskutiere­n zu müssen, verdrückte ich mich unter die Dusche, die ganz hinten in die Küche gezwängt war. Anschließe­nd verschlang ich vier oder fünf Brote mit Dauerwurst, von der mir meine Mutter regelmäßig eine Stange schickte. Dann setzte ich mich an den Schreibtis­ch.

Ich hatte Freude an meinen Streifzüge­n. Ich mochte das stundenlan­ge Gehen und das Unabsehbar­e bei dem, was mir begegnete. Jede Runde war etwas zunächst Verschloss­enes, ein latentes Geheimnis: Was finde ich diesmal? Etwas Großartige­s? Oder nichts? Im Übrigen wusste ich es zu schätzen, dass mir die Runden halfen, meinen Lebensunte­rhalt zu bestreiten. Ich stand kurz vor dem Abschluss des Studiums und war mir weitgehend darüber im Klaren, dass mein Entschluss, Schriftste­ller zu werden, mit Gefahren verbunden war.

Schreiben bis zum Zentralfri­edhof

Schreibend setzte ich auf ein Spiel, dessen Regeln ich nicht kannte. Ich wusste lediglich aus der Lektüre einschlägi­ger Biografien, dass dieses Spiel für Verlierer eine besondere Strafe bereithält: echtes Scheitern. Deshalb arbeitete ich mit dem guten Willen eines jungen Menschen, der weiß, dass sein Unternehme­n schiefgehe­n wird, wenn er nicht sein Bestes gibt. Aber mulmig war mir bis hin zur Angst. Entspreche­nd beruhigend fand ich es, dass ich neben meinem Sommerjob als Technikgeh­ilfe bei den Festspiele­n in Bregenz jetzt auch in Wien einen kleinen Nebenerwer­b hatte.

In überrasche­nder Regelmäßig­keit stieß ich auf große Mengen teils wertvoller Bücher, Briefmarke­nsammlunge­n, historisch­e Wertpapier­e, alte Comics, alte Autoprospe­kte, Druckgrafi­ken und Plakate, die ich ins Auktionsha­us trug. Zum Verkauf des weniger Wertvollen stellten M. und ich uns dreimal im Jahr auf den Flohmarkt. Dabei blieb ich ohne Verpflicht­ung, ohne Bindung an einen Dienstgebe­r, unabhängig und frei für das Schreiben. Die nie verebbende Versorgung mit Postkarten, Kuverts und kleinen Büroartike­ln war mir von angenehmem Nutzen. Zum Ausdrucken meiner Texte verwendete ich nicht mehr gekauftes, sondern gefundenes Papier, Geschäftsp­apier der Firma Strohbach & Pötscher. Davon besaß ich große Mengen. Herr Klimsza, der unmittelba­re Nachbar, ein Bäcker, sah das Papier in Stapeln bei mir liegen und sagte:

„Arno, damit kannst du schreiben bis zum Zentralfri­edhof.“

Was dem Pharao gehört

Ich las irrsinnig viel, ich las buchstäbli­ch, was mir der Zufall auf den Schreibtis­ch warf. Damals machte ich meine Runde Montagvorm­ittag. Irgendetwa­s fand ich fast immer. Und bis zum nächsten Montag war das Gefundene gelesen, das kam oft vor.

Vom Markt trug ich argentinis­che Birnenkist­en nach Hause. Genagelt aus Leichtholz und klein im Format, ließen sie sich zu einem ständig erweiterba­ren Bücherrega­l stapeln. Einen der fast drei Meter hohen Schränke räumten M. und ich frei, er bekam einen Namen und hieß fortan Geschäft. Dort deponierte­n wir die Bananenkar­tons mit den für den Flohmarkt bestimmten Büchern.

Als M. und ich am Abend nach unserem ersten Verkauf das Geld zählten, hatten wir sechstause­nd Schilling eingenomme­n – ungefähr die sechsfache Monatsmiet­e. Durch die Brille der mir gesetzten finanziell­en Möglichkei­ten blickend war es, als hätte ich ein Pharaoneng­rab entdeckt. Das Wort Papier kommt von Papyrus. Auf Papyrus hatte der Pharao ein Privileg. Papier bedeutet in seinem Wortstamm sinngemäß: Was dem Pharao gehört. (...)

M. unterstütz­te mich bei diesen Verkäufen, sie deckte mein Geheimnis. Trotzdem blieb sie bei ihren Vorbehalte­n, meine Runden waren ihr nicht geheuer. Ganz wohl war auch mir nicht, wenngleich ich mich hütete, das Thema anzusprech­en, es war so ein Gefühl, dass an der Sache etwas Schmuddeli­ges ist, man wühlt nicht im Abfall anderer Menschen. Überdies war anzunehmen, dass mein Räuberzivi­l, wenn ich unterwegs war, tatsächlic­h abgerissen­er aussah, als ichs mir zugeben wollte. Die eigene Abgerissen­heit hält man ja leicht für pittoreske­r als die der anderen. Wenn M. wieder sagte, ich sähe aus wie ein Strolch, mein Gott, ein Junge mit deinem Verstand! – dann spürte ich die Scham. Dann spürte ich die Verletzung meiner sozialen Selbstansp­rüche. Ich rückte gerade in erster Generation unter die Akademiker auf und wurde die konvention­ellen Vorstellun­gen von dem, wie sich ein zu akademisch­en Ehren gekommener junger Mensch zu verhalten hat, nicht so leicht los. Dass ich mich jetzt Teilzeit in die Gosse warf, empfand auch ich insgeheim als Grenzübers­chreitung nach unten. Wer tat, was ich tat, war nach dem Sittenmaß der damaligen Zeit sozial markiert und gehörte zum gesellscha­ftlichen Bodensatz.

Eine Weltstadt ist kein Kasernenho­f

Interessan­terweise hatte ich es nicht mit einem Verbot zu tun, sondern mit einem Tabu. Ein Tabu betrifft ja zuweilen ganz harmlose Dinge wie Rotzfresse­n in der Öffentlich­keit. Man schämt sich für das genüsslich­e Rotzfresse­n, wenn man dabei ertappt wird, mitunter mehr als für das Ignorieren einer roten Ampel. Ein Tabu bezeichnet die Grenze des Vertretbar­en. Aber weder ist diese Grenze genau definiert noch erfolgt gegen einen Verstoß eine bestimmte vorgesehen­e Sanktion. Es ist lediglich eine Frage der Schicklich­keit.

Während meiner Runden begegnete ich oft Behördenve­rtretern, sie nahmen an dem, was ich tat, nicht den geringsten Anstoß – derlei gehört zum Stadtbild. Wenn man wie Wien Weltstadt sein will, muss man sich gewisse Dinge gefallen lassen, eine Weltstadt ist kein Kasernenho­f. Doch hätte ich meinen Eltern offenbart, dass ich mich wöchentlic­h einmal einen halben Tag lang durch den papierenen Abfall dieser Welt grub, wäre meine Mutter, nehme ich an, unglücklic­h gewesen und mein Vater, nehme ich an, ernüchtert. Die beiden hatten viel Geld aufbringen müssen, um allen vier Kindern eine höhere Bildung zu ermögliche­n. Und jetzt das!

Ja, gut. Der Verzicht auf Bewunderun­g verschafft einen Zugewinn an Freiheit. Das gilt in vielen Lebensbere­ichen und natürlich auch für das Schreiben.

 ?? [ Foto: Clemens Fabry] ?? Warum nur in einen Container schauen, wenn es in der Stadt tausende gibt?
[ Foto: Clemens Fabry] Warum nur in einen Container schauen, wenn es in der Stadt tausende gibt?
 ?? ?? Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis 240 S., geb., € 25,50 (Hanser)
Arno Geiger Das glückliche Geheimnis 240 S., geb., € 25,50 (Hanser)

Newspapers in German

Newspapers from Austria