Die Presse

Aus dem Kessel Sarajevo

Wie der Krieg den Menschen verändert: Dˇzevad Karahasan beschreibt in seinem Roman „Einübung ins Schweben“die Belagerung der bosnischen Hauptstadt und den Gesinnungs­wandel eines Humanisten: ein Meisterwer­k europäisch­er Literatur.

- Von Klaus Kastberger

Es ist eine Geschichte aus dem belagerten Sarajevo, die Dževad Karahasan erzählt, mehr als ein Vierteljah­rhundert, nachdem er selbst dort eingeschlo­ssen war. Die Hauptfigur trägt einen sprechende­n Namen: Peter Hurd ist hart wie Stein. Nichts kann ihn erschütter­n, er verkörpert gleichsam den Felsen in der Brandung der europäisch­en Geistesges­chichte. Wenn es nach dem Tod des legendären Mythenfors­chers Robert Graves noch jemanden gegeben haben sollte, in dem der europäisch­e Humanismus voll zur Geltung kam, dann sei dies Peter Hurd gewesen, heißt es gleich auf den ersten Seiten des Buches.

Es ist der bosnische Übersetzer von Hurd, Rajko Šurup, der diese hagiografi­schen Sätze liefert und in weiterer Folge die Geschichte von dessen Wandlung erzählt. „Einübung ins Schweben“ist das Buch einer ungeheuerl­ichen Verwandlun­g.

Es beginnt mit einem Datum: Am 2. April 1992 stellt Hurd auf Einladung seines Freundes und Bewunderer­s Rajko in Sarajevo sein Buch „Die weiße Wölfin“vor. Die Lesung war ein Ereignis, sie nahm den Leuten die Angst, die sie „in Erwartung des Krieges“hatten, „riss sie mit“und versetzte sie in „eine Art Verzückung“, sodass sie in dieser Nacht auseinande­rgingen, als hätten sie gemeinsam „einen Tanz von Verliebten getanzt“.

In den nachfolgen­den Tagen werden die Befürchtun­gen wahr. Der Beschuss von Sarajevo beginnt, es gibt die ersten Toten, Peter Hurd aber beschließt, in der Stadt zu bleiben. Rajko gewährt ihm bei sich zu Hause Unterkunft, und es ist ihm, als sei der Freund fortan nur noch von dem Gedanken getrieben, hier und jetzt die Hölle kennenzule­rnen, in einem direkt von Dante inspiriert­en Sinn.

Heckenschü­tzen und Granatbesc­huss

Was aber macht der Krieg mit den Menschen? Er befördert in ihnen das Tiefste nach oben und zieht das Höchste in den Dreck. Schon in den ersten Tagen der Belagerung bemerkt Rajko eine allgemeine Veränderun­g in der Stadt. Die vorher Schweigsam­en plappern jetzt ohne Ende, den Redseligen hat es die Sprache verschlage­n.

In Rajkos Bericht bildet sich die alltäglich­e Wirklichke­it der Belagerung ab: die Heckenschü­tzen und der Granatbesc­huss. Die Luftbrücke und der Tunnel, über den die

Stadt versorgt wird. Die Drogen, die es in der Stadt immer gab, und denen die Menschen verfielen. Die vielen Toten. Der Mangel an fast allem: an Wasser, Strom, Medikament­en und Lebensmitt­eln.

Auf Peter Hurds täglichen Erkundungs­gängen liefert ihm die Stadt Bilder, die direkt aus dem Inferno kommen. Gleich in den ersten Tagen geraten er und Rajko in eine Hochzeit. Eine junge Frau steht vor dem Priester. Dort, wo der Bräutigam sein sollte, hängt ein blutgeträn­ktes Hemd. Nicht mit ihrem Mann wird die Frau verheirate­t, sondern mit dem Einzigen, was von ihm übrig geblieben ist. Die Zeremonie findet trotzdem statt, in trotziger Würde.

Eine Wolke roter Blütenblät­ter

Anderswo zerfetzt es einen Mann in der Luft. Sein Name ist Šaćir Mujezinovi­ć, ganz Sarajevo hat ihn gekannt. Šaćir weigerte sich erfolgreic­h, einer regelmäßig­en Arbeit nachzugehe­n. Er gehörte zum Stadtbild, führte ein unbeschwer­tes Leben und genoss großes Ansehen. Mächtige Männer unterstütz­en ihn über Jahre hinweg großzügig, alle brachten ihm Respekt entgegen. Šaćir gehörte zu Sarajevo, ja mehr noch: In seiner Erscheinun­g verkörpert­e sich eine Eigenschaf­t der grundsätzl­ich schweren Stadt, nämlich ab und zu eben doch auch leicht zu sein und ins Schweben zu geraten.

Eine Gruppe von Augenzeuge­n hat gesehen, wie Šaćir von der Granate getroffen wurde. Übereinsti­mmend berichten die Leute, dass sich der Mann dabei „in eine Wolke roter Blütenblät­ter verwandelt“habe und dass nach der Explosion nichts mehr von ihm übrig war. „Eine Wolke roter Blütenblät­ter?“, fragt Rajko mehrmals nach, und ja: Immer wieder wird ihm das schaurig-schöne Bild bestätigt, ein Rest Unsicherhe­it aber bleibt.

Wie formen sich Wahrheiten im Erzählen? Rajko erweist sich in seinem Bericht als ein Platoniker. Seine Geschichte­n gewinnen ihre Überzeugun­gskraft nicht im Schock der unmittelba­ren Anschauung oder in der triumphale­n Geste des Dabei-gewesen-Seins, sondern erst aus längeren Aufarbeitu­ngsprozess­en heraus, die den puren Erlebnisse­n

folgen. Der Platoniker ist ein dialogisch­er Erzähler. Bei Dževad Karahasan findet sich in poetologis­chen Ausführung­en (in dem Essayband „Im Schatten der Städte“) die Behauptung, dass es für den Wahrheitsg­ehalt der Erzählung oftmals besser sei, bei den Ereignisse­n gar nicht selbst dabei gewesen zu sein.

Es braucht einen Tonfall der „hoch artikulier­ten Ruhe“, um etwas glaubhaft erzählen zu können. Daraus erklärt sich der lange zeitliche Abstand, den der Autor gebraucht hat, um dieses Buch vor den Hintergrün­den seiner eigenen Zeitzeugen­schaft schreiben zu können. Der Körper des Autors hat „Einübung ins Schweben“gleichsam im richtigen Moment ausgespuck­t. Dabei ist das Buch viel mehr geworden als nur ein Bericht über eine belagerte Stadt. Nein: Dieser grandiose Text hebt bei schwebende­m Erzählverf­ahren die Stadt Sarajevo selbst aus dem Kessel heraus und zeigt anhand dieses einen Weltmodell­s, dabei aber auch universell, welch verheerend­e Auswirkung­en der Krieg auf Geistesgrö­ßen haben kann.

Einfluss dunkler Kräfte

Was also passiert mit Peter Hurd? Zusehends entziehen sich die Wege, die er durch Sarajevo nimmt, seinem treuen Eckermann. Rajko stellt Vermutunge­n an, wo und mit wem er sich herumtreib­t, und glaubt, dass Hurd, der ihm in seinem Charakter einst so felsenfest erschienen war, sukzessive in den Einflussbe­reich dunkler Kräfte gerät. Am Ende, bei ihrem gemeinsame­n Weggang aus der Stadt, der sie ins gegnerisch­e Lager in Pale führt, zeigt sich Hurd vollkommen verändert. Nichts ist von seinem Humanismus übrig geblieben. Jetzt feuert er selbst Salven auf die Stadt und ihre Bewohner, die sich noch vor wenigen Monaten an seinem Werk aufgericht­et haben.

Der überragend­en Erzählkuns­t von Dževad Karahasan ist es zu verdanken, dass ein solcher Gesinnungs­wandel mitten im Krieg, der ja nicht allein in historisch­en Personen aus den Jugoslawie­nkriegen seine realen Vorbilder hat, literarisc­h plausibel gemacht werden konnte. Sein Buch gehört zum Besten, was die europäisch­e Literatur auf diesem Gebiet hervorgebr­acht hat.

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Einübung ins Schweben Roman. Aus dem Bosnischen von Katharina WolfGriess­haber. 304 S., geb., € 25,70 (Suhrkamp)
Dˇzevad Karahasan Einübung ins Schweben Roman. Aus dem Bosnischen von Katharina WolfGriess­haber. 304 S., geb., € 25,70 (Suhrkamp)
 ?? Dževad Karahasan. [ Foto: Jürgen Bauer] ?? Tonfall der „hoch artikulier­ten Ruhe“:
Dževad Karahasan. [ Foto: Jürgen Bauer] Tonfall der „hoch artikulier­ten Ruhe“:

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