Befreiung aus der Jukebox
Evgenij Dajnov
NWie eine Musikrichtung die Welt veränderte und warum aus den „Winds of Change“schließlich Orkane und Flauten wurden, beschreibt der Politologe in seinem Buch „Politik und Rock ’n’ Roll“.
iemand bestreitet, dass Lieder und neue philosophische Ideen die Politik beeinflussen können. So haben Singer-Songwriter wie Pete Seeger mit Songs wie „Where Have All the Flowers Gone“und Bob Dylan mit „The Times They Are a-Changing“, „With God on Our Side“oder „The Answer is Blowin’ in the Wind“in Zeiten der US-Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre und des Vietnamkriegs eine ganze Generation politisiert und so politische Änderungen bewirkt. Als „Die 68er“ist sie heute noch Schreckgespenst reaktionärer Mumien.
Über das Thema hat der – nach Jahren in Oxford und den USA – nun an der Universität Sofia lehrende Politologe Evgenij Dajnov das lesenswerte Buch „Politik und Rock ’n’ Roll“verfasst. Nicht nur im Untertitel geht er der Frage nach: „Wie kamen wir von ,Love Me Do‘ auf Donald Trump?“Abends spielt der 1958 Geborene auch in einer Rockband. Praxis trifft Theorie: Unter Zeitgeist versteht Dajnov die Gesamtheit der Ideen, die Musik sieht er als Vorboten der Zukunft. Die Entwicklung stimmt ihn nicht froh. War die Einheit in den Sixties das Thema Nummer eins mit dem Ziel des Aufbaus einer nicht durch Klasse, Rasse und Geschlecht geteilten Gesellschaft unter der universellen Kategorie „Mensch“, so sieht er im 21. Jahrhundert einen starken Separatismus durch stetige Aufteilung der Menschen in einzelne Gruppen.
Als Beispiel für die Sixties sieht Dajnov den Welthit der Band „The Hollies“, „He ain’t heavy, he’s my brother“, die eine öfter auftauchende Anekdote zu einem Song formten: Ein kleines Mädchen trägt ein dickes Baby und entgegnet Leuten, die darüber staunen: „Er ist nicht schwer, er ist mein Bruder!“In Zeiten der Kurz/Grasserei würde der Refrain nun lauten: „Schmeiß’ ihn weg, den Konkurrenten!“
Die klassische deutsche Philosophie sah den Menschen durch Arbeit – mit der Entfremdung durch die Einführung des Fließbandes – konstruiert, die 1923 gegründete Frankfurter Schule nahm aber auch den Konsum ins Visier. Ihr Befund: Der Mensch wird auch in der Freizeit versklavt, zur „Konsummaschine“degradiert. Die Gedanken fassten zuerst in den USA Fuß, Europa war noch mit den Weltkriegsfolgen beschäftigt.
Nehmen wir das Jahr 1962: Nach der Kubakrise, dem Bau der Berliner Mauer und dem Eichmann-Prozess im Vorjahr entwickelte sich ein neues Zeitgefühl: In Großbritannien wurde die Todesstrafe abgeschafft, die Sowjetunion änderte ihre offensive Doktrin in eine des „friedlichen Wettbewerbs mit der kapitalistischen Welt“, atmosphärische Atomtests wurden eingestellt, in den USA erschienen Bücher wie „Clockwork Orange“(Anthony Burgess) oder „Einer flog über das Kuckucksnest“(Ken Kesey), Andy Warhol veranstaltete seine erste Ausstellung, Bob Dylan veröffentlichte zwei Alben. Und „Love Me Do“der Beatles erschien. Der aufkommende Rock ’n’ Roll verstörte die ältere, an Big-Band-Schmuse-Sound gewöhnte Generation durch die Präsenz von Körperlichkeit und Sinnlichkeit, Dynamik und Tanz auf der Bühne bei gleichzeitiger Verstärkung der Rhythmusgruppe. Die Sowjets erkannten darin eine Verschwörung gegen die von ihnen propagierte „sozialistische Moral“der Jugend, die USA einen Anschlag auf die „amerikanischen Werte“– was die Faszination für diese neue Musik bei Jugendlichen nur noch steigerte. Da diese in der westlichen Hemisphäre dank des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums etwas Geld in der Tasche hatten, konnten sie sich Schallplatten und Konzertkarten eher leisten als frühere Generationen.
Waren in den 1950er-Jahren noch das „Aussteigergefühl der Beat-Generation und des Jazz“en vogue, forderte man nun Partizipation ein und nutzte die kommerzielle Massenkultur für subversive Zwecke. Durch den Sowjet-Einmarsch in Ungarn (1956) und in die Tschechoslowakei (1968) waren die westlichen kommunistischen Parteien in eine schwere Krise geraten – in Spanien, Frankreich (dort dominierte noch lange das Chanson) und Italien formierten sich weniger moskauhörige eurokommunistische Parteien. In diesen drei Ländern hatte es die neue Musik viel schwerer, da die dortigen KPs noch viel Protest-Potenzial aufnahmen. So waren es eher die liberal geprägten Staaten USA und England, in denen der Rock ’n’ Roll für Furore sorgte. Im deutschsprachigen Raum bedienten brave, von der Industrie auf „halbwild“gestylte Burschis eine geschnäuzte und gekampelte Version des wilden Genres.
Erst die Beatles und der „elektrifizierte“Bob Dylan von Blonde on Blonde setzten die neue Musik global durch. In der Selbstermächtigung durch eigene Texte und Musik waren sie auf Vorarbeiten konventioneller Texter und Komponisten nicht mehr angewiesen und konnten so Diktaten konservativer Plattenbosse trotzen. Dazu kamen neue technische Entwicklungen, die Experimente in den Studios ermöglichten. Aus der strengen Form des Rock ’n’ Roll war der Beat geworden, der sich mit der Zeit in diverse Richtungen der nun „Rock“genannten Musik spaltete – von Glam bis Punk –, parallel zu philosophischen und politischen Tendenzen. So entstanden Bürgerrechts- und Selbsthilfegruppen, die dem engen Rahmen des „Nanny“-Staats ihre Forderungen entgegenstellten und teils durchsetzten.
Aber weder Rock ’n’ Roll noch die leitenden Ideen des Zeitgeists schafften es, jene angestrebte Gemeinschaftlichkeit auf die Dauer aufrechtzuerhalten, in den 1980er-Jahren wurde die Büchse der Pandora geöffnet: Seichtes Disco-Gedudel aus elektronischen Geräten ersetzte die „Handmade-Music“, aus Gemeinwohl-Vokabular wurde Manager-Slang, Reaganomics und Thatcherismus prägten Wirtschaft und Politik, Betriebswirtschaft ersetzte Volkswirtschaft, die Rebellion der Fantasie verlor erneut gegen die „Mathematisierung der Welt“, Flucht in den Konsum führte aus der Offenheit in die Einsamkeit. Dajnov exemplifiziert dies mit dem technologischen Wandel der für das Musikhören nötigen Geräte. Fütterte anfangs die Jugend die Jukebox in den Gaststätten, um die neueste Scheibe der Beatles oder Stones zu hören, so kam mit dem Walkman die Isolation des Individuums auf einen neuen Stand. Die rasch entstehenden Privat-TV-Anstalten führten auch zu speziellen Musiksendern. Und dann kam das Internet!
Penibel hat Dajnov die Entwicklungen im Westen und in den osteuropäischen Staaten – in denen Film oder Literatur oft eine größere Rolle spielten als die Musik – dargelegt und beschrieben, wie aus den „Winds of Change“Orkane und Flauten wurden.
Von Erich Demmer